“9 mm Cut” von Sybille Ruge: Ein gepfleger Rasen? Sehr verdächtig!

(c) Suhrkamp

Bereits mit ihrem Debütroman “Davenport 160 x 90” bewies sich die deutsche Autorin Sybille Ruge als ungewöhnliche Stimme im großteils sehr gleich klingenden Krimigenre. Ich schrieb damals darüber: “Wer es gern konventionell mag, der könnte mit diesem wilden Mix aus originellen Figuren, bösen Lebensweisheiten und einem scharfen, aber auch humorvollen Blick für die Realität überfordert sein. Wer sich darauf einlässt, wird belohnt – Krimi oder Nichtkrimi!”

Mit ihrem zweiten Buch “9 mm Cut” legt sie sogar noch einmal nach. Der Name von Hauptfigur Eve Klein ist nur ein Aliasname, mit dem sie ihr Auftraggeber K2 (Kunde zwei, Chef eines internationalen Lebensmittelkonzerns) ausgestattet hat, um beim Sitz seiner Stiftung nach dem Rechten zu sehen. Eve ermittelt großteils in einer Villa, deren penibel gepflegter Rasen auf die titelgebenden neun Milimeter getrimmt wird, während sich im Inneren des Hauses die Ungepflegtheiten und Grausamkeiten des Lebens abspielen.

Wortgewaltig und sprachverliebt (“Ihr Lächeln war von erfrischender Kälte”) übt Ruge Kritik am Kapitalismus und tarnt das als Krimi. Allein Sätze wie folgende sind die Lektüre wert: “Ich spürte meine Gesichtsmuskeln, die die Fasson wahrten. Eine höfische Anspannung, dahinter Krieg. Das ist mit Diplomatie gemeint.” Wunderbar.

7 von 10 Punkten

Sybille Ruge: “9mm Cut”, Suhrkamp Verlag, 232 Seiten.

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“Durch die dunkelste Nacht” von Hervé le Corre: Ein Krimi wie eine Anklage

(c) Suhrkamp

Der französische Autor Hervé le Corre hat einen aufrüttelnden Kriminalroman über Gewalt an Frauen geschrieben. Er erzählt dabei aus drei Perspektiven: Louise wird von ihrem Ex-Freund bedroht und misshandelt, ihr Rettungsanker ist der achtjährige Sohn Sam. Polizist Jourdan ist angesichts der häuslichen Brutalität, mit der er täglich konfrontiert wird, desillusioniert. Und dann gibt es noch einen Frauenmörder, der als Kind selbst missbraucht wurde.

Le Corres Buch ist wahrlich keine angenehme Lektüre, aber eine lohnenswerte. Vor allem dann, wenn er jeweils aus der Sicht von Louise und Jourdan erzählt (ich persönlich wäre ohne den dritten Erzählstrang sehr gut ausgekommen, mein Problem mit Serienmördern ist Lesern dieses Blogs hinlänglich bekannt).

Wie sich Louise durch einen unerträglichen Tag nach dem anderen kämpft, Erniedrigung und Angst erträgt, nur um für Sam da zu sein, das berührt. Denn Louise weiß, dass ihr Peiniger wiederkehren wird: “Sie wird beten, dass er ihr nicht mit einem Fußtritt das Rückgrat bricht. Sie wird beten, aber ihr Gebet, das weiß sie, wird von nichts und niemandem erhört, nirgendwo. Kein Gott. Kein Paradies. Die Hölle ist hier, ohne Horizont oder Jenseits.”

Ebenso berührt es, Jourdan durch seinen unerträglichen beruflichen Alltag zu begleiten. Die Welt aus den Augen eines Mannes zu sehen, der an zu vielen Tatorten war und verzweifelt versucht, seine Mitmenschlichkeit zu bewahren. Der sich in selbstmörderische Situationen begibt, weil er all das nicht mehr ertragen kann. Dies gewalttätigen Männer und was sie ihren Familien antun: “Jourdan weiß nicht, was Männer ins Verderben stürzt. Er will es auch gar nicht mehr wissen. Daher die Wut als einzige Reaktion auf unlösbare Fragen. Letzter Ausweg, ganz hinten in der Sackgasse.”

Aussichtslosigkeit, Angst und Verzweiflung, aber auch zart aufkeimende Hoffnung werden spürbar. Vor allem dann, als sich Louises und Jourdans Weg kreuzen. Aber Achtung, “Durch die dunkelste Nacht” ist ein düsteres Stück Kriminalliteratur, ein sattes Stück Noir. Und wir alle wissen, wie diese Bücher enden.

9 von 10 Punkten

Hervé le Corre: „Durch die dunkelste Nacht“, übersetzt von Anne Thomas, Suhrkamp Verlag, 340 Seiten.

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“Brazilian Psycho” von Joe Thomas: Wo sind hier bloß die Guten?

(c) btb Verlag

Die Logik von Verlagen entzieht sich zuweilen der Leserschaft. So auch im Fall des großartigen São-Paulo-Kriminalromans „Brazilian Psycho“. Obwohl das erste von Joe Thomas auf Deutsch publizierte Buch, ist es bereits der abschließende von vier Bänden rund um den ermittelnden Polizisten Mario Leme. Der Unterschied zu den Vorgängern dürfte darin liegen, dass die Zeitspanne des Erzählten weitaus breiter, nämlich von 2003 bis 2019, gefasst ist. Und Leme nur einer von vielen Protagonisten ist, was auch das umfassende Personenverzeichnis am Ende des Buches unumgänglich macht.

Autor Joe Thomas ist zwar Brite, hat aber mehr als zehn Jahre in São Paulo gelebt. Dass er weiß, wovon er schreibt, merkt man auf jeder Seite. Er porträtiert die Stadt als einen Ort von Korruption und Gewalt. Ob die Gangs in den armen Favelas, die gierigen Geschäftsmänner in teuren Anzügen, brutale Militärs, gekaufte Polizisten, rätselhafte Geheimdienstler oder hochrangige Politiker bis ins Präsidentenamt wie Lula da Silva oder Bolsonaro – wo sind hier bloß die Guten geblieben?

Natürlich gibt es die wenigen Aufrechten wie Leme und seinen Partner Ricardo Lisboa. Zu Beginn des Buches beschäftigt sie der Mord am Direktor einer britischen Schule. Bis der Fall geklärt ist, werden 16 Jahre vergehen, und am Ende ist nur eines klar: Die Lösung eines einzelnen Verbrechens ist hier das geringste Problem.

Um noch einmal auf den Verlag zurückzukommen. Nachdem der Autor sich nun also den Lesern vorstellen durfte, bleibt zu hoffen, dass nun die drei ersten Bände der Serie erscheinen, in denen Mario Leme die alleinige Hauptrolle spielen dürfte.

Der vom Verlag strapazierte Vergleich mit Don Winslow tut Thomas jedenfalls nicht gut. Das steigert die Erwartungen zu sehr. Winslow würde niemals 100 bis 200 Seiten benötigen, um so richtig loszulegen. Aber das macht nichts, Thomas hat seine ganz eigene Art zu erzählen. Das ist nicht immer zielorientiert, aber so hat er eben seine ganz eigene Stimme. Der Brite hat ein wenig schmeichelhaftes Porträt der Stadt São Paulo geschrieben. Episch und außergewöhnlich gut.

8 von 10 Punkten

Joe Thomas: „Brazilian Psycho“, übersetzt von Alexander Wagner, btb-Verlag, 638 Seiten, 18,50 Euro.

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Nachgeholt: Meine Lieblingskrimis 2022

Eine Jahres-Bestenliste mit über einem Jahr Verspätung? Außer mir macht das wohl auch niemand 😉 Aber so habe ich jetzt wenigstens ein vollständiges Jahrzehnt (mehr sogar: 11 Jahre) meiner Lieblingskrimis zusammengefasst.

Vorab möchte ich einen Krimi erwähnen, der es gerade nicht in die Top 10 geschafft hat: “Wie die einarmige Schwester das Haus fegt” von Cherie Jones. Nun geht es aber auch schon los:

Platz 10 – James Ellroy: Allgemeine Panik

(c) Ullstein Verlag

In “Allgemeine Panik” widmet sich James Ellroy – wieder einmal – dem Hollywood der 1950er-Jahre und zeigt dessen wenig glamouröse Seite. Das Buch zeigt auch sehr gut: Ellroy ist und bleibt ein Meister des Rabiaten. Es ist vermutlich keines von Ellroys besten Büchern, aber es ist ein abgründiges, verstörendes, zutiefst schurkisches und letztlich auch Spaß machendes Stück Kriminalliteratur.

Platz 9 – Kotaro Isaka: Bullet Train

Fünf Killer besteigen in Tokio den Shinkansen in Richtung Morioka. Wer wird die Fahrt überleben? Der Tarantino-Vergleich mag auf die schrille Hollywood-Verfilmung mit Sandra Bullock und Brad Pitt zutreffen, zumindest lassen das die ersten Trailer vermuten. Das Buch hat aber ganz andere Vorzüge.

Der Autor erzählt eine rasante Geschichte, die aber auch immer wieder ihre stillen Momente hat, fast schon philosophisch wird und mit schlagfertigen Dialogen glänzt. Die comicartigen – weil überzeichneten – Figuren wirken überraschend glaubwürdig. Absurd-Authentisches aus Asien sozusagen. Vermutlich hätte auch Agatha Christie an diesem Mordsspektakel im modernen Orient-Express ihres Erben Isaka ihre helle Freude gehabt.

Platz 8 – Riku Onda: Die Aosawa-Morde

Der Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“ von Isakas Landsfrau Riku Onda hat nicht nur ein paar stille Momente, sondern sogar ganz viele davon. In Ondas Buch dreht sich alles um ein Fest der Familie Aosawa, bei dem siebzehn Menschen einen qualvollen Tod finden. Sie werden vergiftet, nur Hisako, die blinde Tochter des Hauses, überlebt. Die Japanerin schreibt darüber, wie polymorph die Wahrheit sein kann. Sie erzählt aus vielen verschiedenen Perspektiven und verdeutlicht, wie widersprechend scheinbar eindeutige Geschehnisse manchmal sind. Nicht immer ist gleich klar, wessen Stimme zu hören ist, doch mit jeder neuen Sichtweise setzen sich die Geschehnisse von damals neu und anders zusammen.

Das Erzähltempo ist langsam. Die Spannung entsteht allein durch die allgegenwärtige Frage, was wirklich geschah. Eine letztgültige Antwort verweigert die Autorin aber. Das ist konsequent: Es geht letztlich nicht darum, wer die schreckliche Tat begangen hat, sondern was diese mit den Überlebenden getan hat.

Platz 7 – Stephen Mack Jones: Princess Margarita Illegal

(c) Tropen Verlag

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind aus europäischer Sicht nicht immer ganz leicht zu verstehen, da können auch Kriminalromane durchaus aufklärerisch wirken. Der Autor zeigt etwa, dass auch Liberale ein Faible für Waffen haben können. Die Waffenlobby NRA wird bei aller Kritik an sozialen Missständen und rechtsradikalen Fanatikern durchaus ihre Freude an diesem Buch haben. Denn am Ende gewinnen die gut bewaffneten Guten.

Platz 6 – Zhou Haohui: “18/4 – Der Hauptmann und der Mörder”

Raffiniert konstruiert Zhou Haohuis eine rätselhafte Geschichte, die er einerseits meisterhaft aufzulösen versteht und an deren Ende er andererseits gekonnt ein neues Rätsel erschafft, an dem sich in den Teilen zwei (“18/4 – Der Pfad des Rächers”, erscheint im Mai) und drei (“18/4 – Die blinde Tochter”, September) die Ermittler die Zähne auszubeißen haben.

Platz 5 – Don Winslow: City on Fire

Don Winslow hat es nicht verlernt. Zum Auftakt seiner (vorerst) letzten Trilogie hat der Amerikaner die Figuren und Themen der „Ilias“ und der „Aeneis“ ins Rhode Island der 1980er übertragen. Griechen und Trojaner werden zu rivalisierenden Mafiabanden.

Platz 4 – Garry Disher: Stunde der Flut

Garry Disher ist bekannt für seine beiden Krimiserien rund um die Polizisten Inspector Challis und Constable Hirschhausen, aber auch für die Reihe um den vornamenslosen Berufsverbrecher Wyatt (dem Richard Starks ebenfalls vornamensloser Kriminelle “Parker” als Vorbild diente). Zwischendurch schreibt er aber auch Stand-Alones wie nun “Stunde der Flut”. Und das überzeugend.

Ein Markenzeichen des Australiers ist sein ruhiger Erzählstil. Seine Geschichten beginnen nicht mit einem Paukenschlag, ehe er Schlag auf Schlag die Nerven attackiert. Nein, Disher dreht ganz gemächlich, Stück für Stück, an der Spannungsschraube. Zuerst führt er seine Figuren ein, schafft ein stimmiges Setting. Fad ist das nie, aber untypisch für einen Kriminalroman. Erst langsam, wenn man die Figuren besser kennt, die Spannungsfelder in den Beziehungen und die Brüche in der Vergangenheit durschaut, wird Fahrt aufgenommen.

Platz 3 – Gu Byeong-Mo: Frau mit Messer

Leider sind alle meine Notizen zu der Lektüre dieses Buches verschwunden. Als ich vor über einem Jahr die Reihenfolge dieser Liste festgelegt habe, reihte ich das Buch unter die Top 3. Deshalb füge ich “Frau mit Messer” jetzt auch hier ein, kann aber nicht mehr allzu viel darüber erzählen. Hornclaw ist eine ins Alter gekommene Auftragsmörderin. Von alternden männlichen Killern wurde in der Kriminalliteratur schon oft erzählt, nun gibt es endlich auch eine weibliche Variante davon!

Platz 2 – Michael Mann/Meg Gardiner: Heat 2

(c) HarperCollins

Michael Manns Krimiepos „Heat“ aus dem Jahr 1995 genießt unter Filmkennern Kultstatus. 2022 hat Mann mithilfe der Krimiautorin Meg Gardiner eine Fortsetzung geschrieben, Pre- und Sequel in einem. Dem Autorenduo gelingt es dabei ausgezeichnet, die Figuren wieder aufleben zu lassen. Es ist die große Stärke des Buchs, dass hier fehlende Puzzleteile aus dem Leben Hannas und McCauleys schlüssig eingefügt werden. Deren Handlungsweisen und Besessenheiten werden noch klarer. Der Fokus liegt diesmal aber auf Chris Shiherlis, einst gespielt von Val Kilmer. „Heat 2“ bietet fast 700 Seiten knallharte Krimikost in der Tradition von Don Winslow.

Platz 1 – William McIlvanney/Ian Rankin: “Das Dunkle bleibt”

(c) Kunstmann Verlag

Selten kommt es vor, dass unvollendete Manuskripte von Kollegen fertig geschrieben werden. Doch William McIlvanneys „Das Dunkle bleibt“ hat niemand Geringerer als sein schottischer Landsmann Ian Rankin vollendet, dessen Ermittler John Rebus Kultstatus genießt.

Die hohe Kunst Rankins liegt darin, dass man sich bei der Lektüre des Buchs nicht mit der Frage beschäftigen muss, welcher der beiden Autoren denn nun welchen Teil geschrieben hat. Sowohl die beiden Schriftsteller als auch ihre Figuren haben einen ähnlich abgeklärten Blick auf die Dinge, der sich auch in folgendem Zitat perfekt zusammenfassen lässt: „Das Gesetz hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Das ist ein System, das wir installiert haben, weil’s keine Gerechtigkeit gibt.“

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Meine Lieblingskrimis 2023

Auch wenn ich im vergangenen Jahr so gut wie nichts in diesem Blog über Kriminalliteratur geschrieben habe, gelesen habe ich dennoch viel. Daher möchte ich zu Beginn des neuen Jahres noch einmal zurückblicken (vielleicht schaffe ich es demnächst auch noch, meine Lieblingskrimis 2022 nachzuholen …).

Damit es spannender ist, beginne ich bei Platz 10 😉

Platz 10 – Joesi Prokopetz: Hofer

Edition A Verlag

Als 19-Jähriger hat Joesi Prokopetz den Text für den berühmten Austropop-Song „Da Hofa“ geschrieben. Über 40 Jahre später hat er daraus nun einen Kriminalroman gemacht.

Prokopetz hat einen amüsanten Kriminalroman geschrieben, in dem Drogen, der KGB, jugoslawische Partisanen, kaum versteckter Antisemitismus, Abtreibung im katholisch-heuchlerischen Österreich und natürlich auch Popsongs eine große Rolle spielen. Die Polizisten sind ein bissl dilettantisch, die Drogen konsumierenden und durch einen Zufallsfund auch mit Drogen handelnden Jugendlichen unbedarft-naiv. Die Unterweltler sind zwar skrupellos, aber auch nicht die allerhellsten.

Dem Schriftsteller Prokopetz ist es gelungen, aus wenigen Lied-Zeilen einen 300-seitigen stimmigen Roman zu machen, der seine Vorlage nicht kannabalisiert und banalisiert, sondern dem Hofer-Mythos ein weiteres Mosaik hinzufügt.

Platz 9 – Regina Nössler: Kellerassel

Konkursbuch Verlag

„Kellerassel“ spielt während Corona in Berlin. Isabel arbeitet in einer Impfstraße, überlegt aber, wie sie durch Erpressung zu mehr Geld kommen kann. Da sie auch noch im Tiefparterre lebt, wird sie von so manchem abschätzig als Kellerassel bezeichnet.

Regina Nössler porträtiert neben der eigenwilligen Isabel auch noch andere gewöhnungsbedürftige Charaktere, allesamt eher unsympathisch, aber lebensecht. Diesen Kriminalroman der anderen Art sollte man aufgrund seiner Qualität und des lakonischen Stils nicht im Tiefparterre, sondern im Dachgeschoß einordnen.

Platz 8 – Karin Smirnoff: Verderben

Heyne Verlag

Mit „Verderben“ ist Teil eins der dritten offiziellen Trilogie rund um Blomkvist und Salander auf Deutsch erschienen. Autorin Karin Smirnoff erweitert das „Millennium“-Universum um Salanders Nichte Svala, die sehr viel mit ihrer widerspenstigen, außergewöhnlichen Tante gemeinsam hat. Auch sonst wird die Autorin den Vorgängerbüchern gerecht: Die Bösen sind ausschließlich Männer, die Frauen fügen sich jedoch nicht in ihre Opferrollen. Obwohl sie mit den Folgen der männlichen Grausamkeiten leben müssen, sind sie das wahre starke Geschlecht. Da scheint es schlüssig, dass die Erben einer Frau all die zweifelnden und dennoch gleichzeitig so selbstbewussten weiblichen Figuren anvertrauen.

Smirnoff erweist sich in „Verderben“ als würdige literarische Erbin, wenn sie im Geiste des Erfinders über die skrupellosen Machenschaften von Konzernen und korrupten Verwaltungsbeamten, unterstützt von einer rechtsradikalen Motorradgang, schreibt. Wie schon Larsson zeigt sie, wie aus Ohnmacht Wut werden kann – Wut, die aus unterdrückten Opfern Gleichberechtigte macht, die zurückschlagen.

Platz 7 – James Kestrel: Fünf Winter

Suhrkamp Verlag

Das Schicksal von Detective Joe McGrady, den es im Jahr 1941 bei seinen Ermittlungen nach einem grausamen Doppelmord von Honolulu nach Hongkong verschlägt, geht unter die Haut. Als sich die politischen Ereignisse überschlagen und der Krieg zwischen Japan und den USA ausbricht, gerät der Fall vorerst in den Hintergrund: Es gilt zu überleben. So erklärt sich auch, warum sich die Handlung über die titelgebenden fünf Winter spannt und erst im Dezember 1945 endet.

„Fünf Winter“ erzählt viele Geschichten. Da wäre die eines außergewöhnlichen Kriminalfalls, der McGrady angesichts der unglaublichen Brutalität der Tat einfach nicht loslässt. Dann die der komplexen amerikanisch-japanischen Beziehungen. Sowie eine einfühlsame Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht, und viele, viele kleine zwischenmenschliche Episoden. Die große Leinwand scheint für diesen Stoff programmiert.

Platz 6 – Don Winslow: City of Dreams

HarperCollins Verlag

Don Winslow hat einen Mittelteil ohne Mittelmäßigkeit geschrieben. War der Auftakt, „City of Fire“, vor allem von Homers „Ilias“ geprägt, orientiert sich der zweite Teil seiner City-Trilogie nun sehr stark am Epos „Aeneis“, das der römische Dichter Vergil auf Grundlage von Homers „Ilias“ und „Odyssee“ geschrieben hat.

Es ist Winslows große Leistung, dass man als geschichtlich und mythologisch unbedarfter Krimileser an dieser Trilogie ebenso seine Freude hat wie als Liebhaber jahrtausendealter Stoffe. Wer könnte in dieser modernen Version Odysseus sein, wer Dido, wer Aphrodite? Winslow hat ein vielschichtiges Werk verfasst, reich an vielen wahrhaftigen Momenten, das letztlich aber in erster Linie all das abhandelt, was das Menschsein ausmacht: Freundschaft, Feindschaft, Liebe, Loyalität, Hass und Gier. Diese Themen haben sich seit Homer und Vergil nicht grundsätzlich verändert.

Platz 5 – Percival Everett: Die Bäume

Hanser Verlag

In Money Mississippi sterben dumme, dicke weiße Männer. Neben ihnen wird jeweils die Leiche eines unbekannten Schwarzen gefunden. Das Ungewöhnliche: es ist jedesmal derselbe schwarze Mann. Doch wer ist er und wie kann er plötzlich verschwinden und an anderer Stelle wieder auftauchen?

Percival Everetts “Die Bäume” ist vor allem eine ungewöhnliche Kritik am Rassismus in den USA, dem man nicht mit Realismus begegnen kann. Bissiger Humor, gepaart mit ebenso präziser Gesellschaftskritik – und all das liest sich noch dazu wie ein Kriminalroman. Kein Wunder, dass dieses Buch fast alle Krimipreise eingeheimst hat.

Platz 4 – Heather Levy: Der süßeste Tod

Polar Verlag

„Der süßeste Tod“ ist ein gelungener Kriminalroman rund um BDSM – aber meilenweit entfernt von stereotypen Hollywood-Darstellungen wie in „50 Shades of Grey“. Einvernehmlichkeit ist auch bei BDSM oberste Prämisse. Levy lotet gekonnt Grenzen und Grenzüberschreitungen aus.

Um eine grundlegende und zentrale Frage kreist das Buch: Was passiert, wenn ein sadistischer Sexualtäter auf eine Teenagerin mit masochistischen Neigungen trifft? Laut der deutschen Kriminalliteratur-Expertin Sonja Hartl räumt die Autorin mit einem brutalen Irrtum auf, wie sie im Nachwort schreibt: „Nur weil sie von Schmerzen erregt wird, bedeutet es nicht, dass sie vergewaltigt werden will.“

Wer ein schmuddeliges und voyeuristisches Machwerk befürchtet: Fehlanzeige. Levys Buch ist stellenweise sehr schwer erträglich. Was Menschen einander antun, es ist kaum zu beschreiben. Doch Levy gelingt es.

Platz 3 – Dennis Lehane: Sekunden der Gnade

Diogenes Verlag

Boston im Sommer des Jahres 1974. Die Stadt gleicht einem Kochtopf. Das liegt an der drückenden Hitze, aber auch an den Folgen eines Gerichtsurteils, das die Stimmung befeuert. Dieses verpflichtet die Schulbehörde nämlich dazu, schwarze Schüler per Bus in weiße Schulen zu bringen – und umgekehrt. Das irisch geprägte Viertel Commonwealth in South Boston ist deshalb in Aufruhr. Nähme man den Deckel vom Kochtopf, der ganze Hass würde herausbrodeln.

Für Lehane ist dieses Buch ein persönliches. Als Kind war er mit seinem Vater in einen Mob aufgebrachter Menschen geraten, die gegen die Fahrt der Schulbusse demonstrierten. Nie in seinem Leben habe er so viel Angst gehabt. „Es ist eine Geschichte, die, so hoffe ich, endlich in Worte fasst, was ein verängstigter Neunjähriger zu begreifen versuchte, als sein Vater falsch abgebogen und mitten ins empörte Herz einer Gemeinschaft geraten war.“ Vor allem aber ist es ein Buch, das man wegen seiner vielen Wahrheiten, seiner Empathie und seinem unerschütterlichen Humanismus am liebsten gleich noch einmal lesen würde.

Platz 2 – Megan Abbot: Aus der Balance

Pulpmaster Verlag

Megan Abbotts abgründiger Krimi “Aus der Balance” entführt in die Welt des Balletts, auf die dunkle Seite von Rosa, wenn man so will. Eindringlich schreibt sie von geschundenen Körpern und Seelen.

“Das Ballett war reich an düsteren Märchen, und wie eine Tänzerin ihre Spitzenschuhe vorbereitete, war ein Ritual, so mysteriös und intim wie Selbstbefriedigung”, heißt es an einer Stelle. Ohne Ehrgeiz und Ellbogen gibt es im Ballett jedenfalls keine Erfolge.

Abbotts abgründige Geschichte über die Schwestern Dara und Marie, die seit dem Tod ihrer Mutter eine Ballettschule betreiben, legt gekonnt offen, wozu die vielen nicht gesagten Dinge in Beziehungen führen können.

Platz 1 – Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume

Tropen Verlag

Der Franzose Jean-Christophe Grangé hat mit „Die marmornen Träume“ einen großen Roman geschrieben, der im Berlin der 1930er-Jahre spielt und den Irrsinn jener Zeit offenbart.

„Die marmornen Träume“ fängt die zwischen Ekstase und Ohnmacht schwankende Stimmung gekonnt ein. Dass es ausgerechnet drei „Beschädigte“ sind, die den Proponenten eines abartig auf Schönheit und Perfektion getrimmten Weltbildes, mehr aus Sturheit als aus tiefster Überzeugung, ungalant das Bein stellen, ist ein wunderschöner Kniff.

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Zwölf Krimis, auf die ich mich 2024 freue

Tja, seit März ist es auf meinem Blog still geworden – totenstill, wenn man in der Krimi-Sprache bleiben will. Neujahrsvorsätze sind so eine Sache, daher warte ich gar nicht erst auf den Jahreswechsel, sondern will noch 2023 einen kurzen Blick in das kommende Jahr werfen. So viel steht fest: Es dürfte ein kriminell gutes Jahr werden 😉

Vorab herauszuheben ist definitiv ein Buch: Mit “Die Firma” wurde US-Autor John Grisham weltberühmt. Nun hat er mit “Die Entführung” (angekündigt vor 28. Februar) eine Fortsetzung geschrieben. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seitdem Junganwalt Mitch McDeere gemeinsam mit dem FBI seine kriminelle alte Firma hat hochgehen lassen. Mittlerweile ist er für die größte Anwaltskanzlei der Welt tätig. Als ihn ein Mentor um einen Gefallen bittet, befindet er sich schon bald in größter Gefahr. Ich habe bislang keinen einzigen Grisham gelesen, dieser würde mich aber reizen.

Bereits im Jänner erscheint vom Franzosen Hervé Le Corre ein Stück Noir: “Durch die dunkelste Nacht” (15. Jänner) spielt in Bordeaux, wo ein Killer Frauen ermordet. Die Geschichte einer Nacht wird aus drei Sichtweisen erzählt. Ebenfalls im Jänner am Start: Nach ihrem düsteren Ballett-Krimi “Aus der Balance”, dem zuletzt hier besprochenen Krimi, ringt Megan Abbott auch in ihrem neuen Buch “Wage es nur!” (20. Jänner) dem Genre Noir eine weibliche Seite – inhaltlich geht es diesmal um Cheerleader – ab.

Weiter geht es mit einem Serienmörder-Krimi, endlich einmal aus einer anderen Sicht. Ansel Packer soll in wenigen Stunden hingerichtet werden, doch in Danya Kukafkas “Notizen zu einer Hinrichtung” (14. Februar) werden die Geschichten der Frauen erzählt, die er zurückgelassen hat. “Yellowface” (29. Februar) von Rebecca F. Kuang beschäftigt sich mit folgender Frage: Wie weit bist du bereit zu gehen? Als der erfolglosen Schriftstellerin June Hayward das Manuskript der gefeierten chinesisch-amerikanischen Autorin nach deren Tod in die Hände fällt, überarbeitet sie dieses und veröffentlicht es unter einem Künstlernamen.

Im März erscheint dann ein Gefängnisroman aus Australien. Adam Morris erzählt in “Bird” (4. März) von Carson, einem jungen Aborigine, der zwischen Gefängniszelle und Freiheit pendelt. Nur ein paar Tage später heißt es: Willkommen bei den Hooligan-Ultras des FC Barcelona: Kiko Amats “Revanche” (13. März) ist ein Pflichtbuch für Fußballfans, deren Blick über den Platz hinaus reicht, und das sich zudem mit anderen Nebensächlichkeiten wie Liebe und Rache befasst.

Lavie Tidhar erzählt in “Maror” (15. April) die Geschichte Israels als Krimi-Epos. Ein Buch, das angesichts der aktuellen Geschehnisse zusätzlich an Relevanz gewonnen hat. Der Verlag beschreibt es als “eine Art Chronique scandaleuse Israels und ein grimmiges, schwarz-humoriges Plädoyer für dessen Existenzrecht”. Klingt vielversprechend. Ebenso wie Ray Naylers Öko-Thriller “Die Stimme der Kraken” (20. April). Hier wollen die Meeresbewohner vor allem eines: dass der Mensch verschwindet. Da werden Erinnerungen an Frank Schätzings “Der Schwarm” wach.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit “Der Zorn der Einsiedlerin”, der neunte Kriminalroman der Französin Fred Vargas rund um ihren Ermittler Jean-Baptiste Adamsberg erschienen ist. Mit “Jenseits des Grabes” (8. Mai) kehrt der ungewöhnliche Polizist zurück. In der Nacht, bevor ein Wildhüter starb, wollen die Dorfbewohner den hinkenden Schritt eines Geistes gehört haben, der immer dann zu hören ist, wenn sich drohendes Unheil ankündet. US-Autor Don Winslow wiederum – der mittlerweile das Schreiben aufgegeben hat, um eine Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident zu verhindern – bringt mit “City in Ruins” (21. Mai) seine von der griechischen Antike inspirierte Trilogie rund um Danny Ryan zu einem Ende. Und noch einmal Grauen aus der Tiefe: “Whalefall” (21. Mai) von Daniel Kraus erinnert ein wenig an Pinocchio: Jay Gardiner landet nach einem Tauchgang, bei dem er von einem Riesenkalmar angegriffen wird, in einem der vier Mägen eines Pottwals. Was kurios und fantastisch klingt, entpuppt sich als wissenschaftlich exakter Thriller der Sonderklasse.

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Megan Abbott: Aus der Balance

(c) Pulp Master

Lange ist es her, seit ich hier geschrieben habe. Ich will keine Prognose wagen, wie es mit crimenoir weitergeht, aber wenn ich schon zurückkehre, dann gleich mit einem Buch, das mich so richtig auf Lesereise mitgenommen hat. Also einen Kriminalroman, dem ich 10 von 10 Punkten gebe: Megan Abbotts abgründiger Krimi “Aus der Balance” entführt in die Welt des Balletts, auf die dunkle Seite von Rosa, wenn man so will. Eindringlich schreibt sie von geschundenen Körpern und Seelen.

Seit Abbotts viel gepriesener Kriminalroman “Das Ende der Unschuld” vor einem Jahrzehnt erschienen ist, ist es um die US-Autorin still geworden. Zumindest im deutschsprachigen Raum. Daran ändert nun ausgerechnet der Kleinstverlag Pulp Master etwas, dessen Bücher bislang immer für eine klassische Männerwelt standen, wie Thekla Dannenberg im Nachwort schreibt: “abgründig, dunkel und voller Härte”.

Pulp Master vollzieht seinen Wandel nun noch dazu mit dem Ballettroman. Aber Vorsicht! Man sollte sich von der schönen zartrosa Welt von Tüll und Tutu nicht täuschen lassen. “Das Ballett war reich an düsteren Märchen, und wie eine Tänzerin ihre Spitzenschuhe vorbereitete, war ein Ritual, so mysteriös und intim wie Selbstbefriedigung”, heißt es an einer Stelle. Ohne Ehrgeiz und Ellbogen gibt es im Ballett jedenfalls keine Erfolge.

Abbotts abgründige Geschichte über die Schwestern Dara und Marie, die seit dem Tod ihrer Mutter eine Ballettschule betreiben, legt zudem gekonnt offen, wozu die vielen nicht gesagten Dinge in Beziehungen führen können. Als plötzlich ein Mann in Maries Leben tritt, gerät das Beziehungsdreieck zwischen den Schwestern und Daras Ehemann, Charlie, ins Wanken. Charlie war einst von Daras und Maries Mutter aufgenommen worden und hatte jahrelang wie ein Geschwisterteil im Haus gelebt, ehe aus ihm und Dara ein Paar wurde. Das Unheil, man spürt es von Seite zu Seite, nimmt seinen Lauf.

Es wäre nicht verwunderlich, würde sich der eine oder andere Großverlag nach der Lektüre fragen, warum er dieses Buch nicht in sein Programm genommen hat.

10 von 10 Punkten

Megan Abbott: “Aus der Balance”, übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Mülle, Pulp-Master-Verlag, 416 Seiten.

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Der beste Kriminalroman aller Zeiten?

(c) Kampa Verlag

Die englische Autorenvereinigung Crime Writer Association hat Josephine Teys “Alibi für einen König” einst zum besten Kriminalroman aller Zeiten gekürt. Tey stach mit ihrem 1951 erschienenen Buch in der im Jahr 1990 erstellten Liste Raymond Chandler, John le Carré und auch Daphne Du Maurier (“Rebecca”) aus. Nun ja, aus heutiger Sicht mutet es einigermaßen gewagt an, “Alibi für einen König” als besten Krimi aller Zeiten zu bezeichnen. Da nun eine Neuauflage (mit ansprechendem Cover, wie ich finde) erschienen ist, liegt es nahe, sich dieses Buch ein wenig genauer anzusehen.

Vorweg: Tey hat mit ihrem Buch König Richard III., der in Großbritannien ein halbes Jahrtausend lang als Tyrann und Mörder galt, späte Gerechtigkeit zukommen lassen. Erst Teys historischer Kriminalroman änderte an diesem Bild etwas. Allerdings ist ihr Werk zumindest im deutschsprachigen Raum in Vergessenheit geraten. Es wäre also an der Zeit, auch der Autorin etwas Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Denn letztlich ist es egal, ob ihr Buch nun der allerbeste Kriminalroman aller Zeiten ist.

Worum geht es überhaupt? Alan Grant, Inspector bei Scotland Yard, liegt ans Bett gefesselt im Krankenhaus. Tey bedient sich hier des im Genre nicht unbekannten “armchair detectives”, also eines Ermittlers, der sich nicht aus dem bequemen Sessel erhebt und dennoch mit Geisteskraft alle kniffligen Rätsel löst. Im Gegensatz zu Sherlock Holmes ist Grant allerdings unfreiwillig zur Unbeweglichkeit verdammt. Als ihm das Porträt Richard III. in die Hände fällt, ist seine Neugier geweckt: Sieht so ein Mörder und Tyrann aus? Er beginnt historische Nachforschungen anzustellen.

Diese offenbaren vor allem eines: Geschichte wird subjektiv geschrieben. So auch im Fall Richard III. Sowohl Lordkanzler Thomas Morus also auch William Shakespeare ließen aus unterschiedlichen Motiven kaum ein gutes Haar an dem König, sodass über die Jahrhunderte ein äußerst verzerrtes Bild seiner Persönlichkeit entstand. Man erinnerte sich nur mehr seiner angeblichen Gräueltaten. Hier liest sich Teys Buch teilweise weniger wie ein Kriminalroman, sondern wie eine Abrechnung mit Historikern. Sehr passend: Denn im Original heißt Teys Buch “The Daughter of Time”. Eigentlich der perfekte Titel, denn es bezieht sich auf das Zitat von Sir Francis Bacon: “Truth is the Daughter of Time, not of Authority”.

“Alibi für einen König” liest sich zwar anregend, aber mitunter auch ein wenig ermüdend. Tey schafft es nicht ganz, sich von all der faszinierenden, weil widersprechenden Geschichtsschreibung zu lösen. Zuweilen verliert sie sich in Details, die all jene, die sich nicht für die Untiefen der Geschichte des britischen Königshauses erwärmen, nicht besonders interessieren werden. Aber als gelernte Kriminalschriftstellerin passiert ihr das nur an sehr wenigen Stellen.

Fasziniert hat mich, dass Josephine Tey zu einem frühen Zeitpunkt mit den Konventionen des Genres brach. Denn am Ende wird sich vieles relativiert, aber nicht alles hundertprozentig gelöst haben. Der beste Kriminalroman aller Zeiten? Nein. Ich habe schon viele Kriminalromane gelesen, die auf meiner persönlichen Ranking-Liste deutlich über Teys Werk stehen, dennoch ist “Alibi für einen König” eine kurzweilige Zeitreise – perfekt auch für die Weihnachtsfeiertage. Für all jene, die das Genre gern von allen Seiten erkunden, führt eigentlich kein Weg an der Lektüre vorbei. Es lohnt sich.

Hier übrigens die CWA-Liste der 100 besten Kriminalromane von einem Nerd, der alle 100 Bücher rezensiert hat.

8 von 10 Punkten

Josephine Tey: “Alibi für einen König”, übersetzt von Maria Wolff, Kampa Verlag, 256 Seiten.

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Michael Mann/Meg Gardiner: Heat 2

(c) HarperCollins

Es war für mich eine der größten Überraschungen des Krimijahres: 27 Jahre nach “Heat” schreibt Regisseur Michael Mann mit Krimiautorin Meg Gardiner eine Fortsetzung seines Klassikers. “Heat” ist für mich nicht irgendein Film, ich würde ihn neben Luc Bessons “Leon, der Profi” und Kathryn Bigelows “Strange Days” zu meinen drei Lieblingsfilmen der 1990er Jahre zählen. Es würde wohl zwei, drei Blogeinträge füllen, zu erklären, warum “Heat” so ein Ausnahmefilm ist, aber eigentlich will ich hier über die kriminalliterarische Fortsetzung schreiben, und warum diese im Großen und Ganzen sehr gelungen ist. Aber es gibt da auch ein paar Dinge, die mir nicht so zugesagt haben.

Michael Manns Film “Heat” aus dem Jahr 1995 genießt unter Filmkennern zu einem wesentlichen Teil wegen seinen beiden Hauptdarstellern Kultstatus. Al Pacino als erbarmungsloser Polizist Vincent Hanna und Robert de Niro als charismatischer Berufsverbrecher Neil McCauley prallten das erste Mal gemeinsam in einem Film (in Coppolas “Der Pate 2” hatten sie keine gemeinsamen Szenen) aufeinander, in einer denkwürdigen Diner-Szene. Unweigerlich hat man auch beim Lesen Al Pacino und Robert de Niro als auch Val Kilmer vor Augen, auf dessen Charakter Chris Shiherlis der Fokus des Buches liegt.

“Heat 2” ist Pre- und Sequel in einem. Dem Autorenduo gelingt es dabei ausgezeichnet, die Figuren wieder aufleben zu lassen. Es ist die große Stärke des Buchs, dass hier fehlende Puzzleteile aus dem Leben Hannas und McCauleys schlüssig eingefügt werden. Deren Handlungsweisen und Besessenheiten werden noch klarer. Der Fokus liegt diesmal aber wie erwähnt auf dem Charakter von Chris Shiherlis. Er war der Einzige aus McCauleys Bande, der am Ende entkommen konnte.

In “Heat 2” findet er in Paraguay Unterschlupf. Er verdingt sich ab sofort für die taiwanesisch-paraguayanische Familie Liu, die eine mächtige kriminelle Organisation aufgebaut haben. Schon bald kann er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und sich eine neue kriminelle Karriere aufbauen. Die USA sind für ihn aber Tabu, würde er heimkehren, würde er sofort verhaftet werden, da er weiterhin steckbrieflich gesucht wird. Das zerreißt ihn innerlich, denn Frau und Kind leben in den USA, Kontakt zu den beiden wichtigsten Menschen ist ihm aber nicht möglich.

Sehr faszinierend sind auch jene Szenen, die im Jahr 1988 spielen und Einblick in das Leben von McCauley und seiner Crew gewähren. Wie die Bande in Mexiko einen Coup plant, bei dem ein Drogenversteck ausgeraubt werden soll, erinnert stark an dem Film. Die professionellen Verbrecher beim Austüfteln, beim Planen und Sich-Wappnen für alle möglichen plan- und unplanbaren Situationen. Natürlich – wie könnte es anders sein – wird nichts glatt gehen.

„Heat 2“ bietet also fast 700 Seiten knallharte Krimikost in der Tradition von Don Winslow. Störend sind aus meiner Sicht allerdings die stereotype Zeichnung der grausamen “bösen” Bösen im Vergleich zu den “guten” Bösen rund um McCauleys Profi-Truppe. Vor allem der Bösewicht Otis Wardell wird als Person ohne Nuancen charakterisiert. Er ist das personifizierte Böse. Er ist einfach nur grausam und sadistisch. Irgendwie hat mich das beim Lesen geärgert. Zudem gibt es einfach ein paar Zufälle zu viel, um die Handlungsstränge von 1988, 1995 und 2000 zu verknüpfen. Das ist einfach zu viel.

Egal. Auf den Film „Heat 2“, der sich angeblich in Planung befindet, kann man sich freuen. Großer Wehmutstropfen: Weder de Niro noch Pacino noch Kilmer werden mitspielen.

8 von 10 Punkten

Michael Mann/Meg Gardiner: “Heat 2”, übersetzt von Wolfgang Thon, HarperCollins Verlag, 687 Seiten. 

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James Ellroy: Allgemeine Panik

(c) Ullstein Verlag

Unglaublich eigentlich, aber seit ich diesen Blog hier betreibe, habe ich offenbar kein Buch von Krimi-Ikone James Ellroy besprochen. Mein Lieblings-Ellroy ist “Ein amerikanischer Thriller”, aber den habe ich bereits vor vielen, vielen Jahren gelesen. Sein neuester Kriminalroman “Allgemeine Panik” widmet sich – wieder einmal – dem Hollywood der 1950er-Jahre und zeigt dessen wenig glamouröse Seite. Das Buch zeigt auch sehr gut: Ellroy ist und bleibt ein Meister des Rabiaten.

“Ich arbeite für jeden, außer für Kommunisten. Und tue alles, bis auf Mord.” So lautet Freddy Otashs Lebensmotto. Bloß sagt er nur die halbe Wahrheit, denn einer dieser beiden Sätze stimmt nicht, wie man im Verlauf der Geschichte von “Allgemeine Panik” schon bald feststellen wird. Otash, der wirklich gelebt hat, ist eine typische James-Ellroy-Figur: Der Expolizist und nunmehrige Privatermittler war ein selbstbezogener, brutaler und sexbesessener Kerl, der sich im Los Angeles der 1950er-Jahren für keinen schmutzigen Job zu schade war. Für das Schundblatt “Confidential”, gegen das heutige Klatschmagazine wie Bibeln guten Geschmacks anmuten, schnüffelte er skrupellos Prominenten hinterher, horchte diese ab und scheute vor Bestechung und Erpressung nicht zurück. Zu seinen Opfern zählten angeblich Marilyn Monroe, Frank Sinatra sowie der spätere US-Präsident John F. Kennedy.

Willkommen im Fegefeuer

Der betagte, aber alles andere als altersmilde US-Autor lässt Ich-Erzähler Otash zu Beginn des Buches im Fegefeuer sitzen, aus dem dieser sich nur befreien kann, wenn er endlich die Wahrheit offenbart: “Seit achtundzwanzig Jahren stecke ich in diesem beschissenen Elendsloch fest. Und jetzt will man mir weismachen, ich könne mir durch schonungslose Offenlegung meiner Missetaten einen Weg nach draußen schreiben.”

Also packt Otash, der auch das Vorbild für Jack Nicholsons Rolle als Jack Gittes in “Chinatown” gewesen sein soll, aus und beichtet die Sünden seines Lebens. Was folgt, ist ein wilder Ritt durch ein wenig glamouröses Hollywood, sehr viel Sex inklusive. Die Schauspieler Marlon Brando, James Dean, Rock Hudson, Burt Lancaster würden sich bei der Lektüre wohl im Grab umdrehen – wie auch der spätere US-Präsident John F. Kennedy, der aufgrund seiner mangelnden Ausdauer beim Sexualakt abschätzig als Zwei-Minuten-Mann tituliert wird. Elizabeth Taylor und weitere Filmdiven werden ebenfalls wenig schmeichelhaft porträtiert.

Man kann Ellroys Buch als wahllose Aneinanderreihung von Obszönitäten und ungezügelten Gewaltausbrüchen (“An meiner Seele klebte Blut, an meinem Totschläger lose Zähne”) lesen, doch entwickelt dieses unweigerlich einen ganz eigenen Sog. All die realen Persönlichkeiten und fiktiven Figuren, für deren Übersichtlichkeit ein Glossar durchaus hilfreich wäre, die unzähligen Nebenschauplätze und historischen Hintergründe lassen ein ungezügelt mäanderndes Panoptikum entstehen, das seinesgleichen sucht. Skurril mutet es etwa an, wenn sich Politiker und Prominente auf Dächern versammeln, um die Schönheit von Atombombentests in der Wüste zu bewundern: “Die prächtige Pilzwolke prangte in Purpur und Rosa.”

Ellroy, wahrlich keine Edelfeder

Ellroy ist keine Edelfeder, er ist ein Poet des Rabiaten, des Rohen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und schreibt, was und wie es ihm beliebt, politische Korrektheit ist ihm ein Gräuel. So übertrieben seine Beschreibungen Hollywoods als reiner Sündenpfuhl auch sein mögen, bietet gerade diese Überzeichnung bis ins Absurde letztlich auch eine Möglichkeit zur Annäherung an die Wirklichkeit.

Letztlich ist Ellroys Rückgriff auf das Purgatorium als Ort der Beichte ein genialer Zug. Was wird Otash erzählen oder erfinden, um aus dem Fegefeuer erlöst zu werden? Was davon ist wahr, was halb wahr, was komplette Fiktion? Fragen, die sich aufdrängen, zumal Otash sich selbst bereits zu Lebzeiten immer wieder als Verräter und jämmerlicher Polizeispitzel bezeichnet. So viel Otash auch erzählen mag, endgültige Antworten auf den möglichen Wahrheitsgehalt des Erzählten gibt es nicht.

“Allgemeine Panik” ist vermutlich keines von Ellroys besten Büchern, aber es ist ein abgründiges, verstörendes, zutiefst schurkisches und letztlich auch Spaß machendes Stück Kriminalliteratur.

7 von 10 Punkten

James Ellroy: “Allgemeine Panik”, übersetzt von Stephen Tree, Ullstein Verlag, 430 Seiten.

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