Monthly Archives: August 2017

Gudrun Lerchbaum: Lügenland

(c) Pendragon

(c) Pendragon

Bevor ich hier auf Gudrun Lerchbaums Debüt “Lügenland” eingehe, will ich einmal ein wenig ausholen, um zu erklären, warum ich über Kriminalromane schreibe. Es ist ganz einfach meine Lieblingsliteratur. Sie ist im Idealfall spannend, unterhaltsam, sozialkritisch, literarisch und auch anspruchsvoll zugleich. Zumindest suche ich “meine” Krimis nach diesen Kriterien aus. Banale Serienmörder-Thriller und voyeuristisch zur Schau gestellte Metzeleien sowie Foltereien interessieren mich genauso wenig wie Mörder, die Rätsel hinterlassen.

Mein Anspruch ist es, auf Kriminalliteratur dieser Art – wobei jeder lesen soll, was immer er lesen will – im unübersichtlichen Publikationsdschungel hinzuweisen. Ich versuche dabei immer dem Autor gegenüber fair und ausgewogen zu sein. Denn man vergisst allzu leicht, dass da jemand über Monate oder Jahre mit viel Herzblut und Liebe ein eigenständiges Werk verfasst hat, das dann noch dazu verlegt wurde. Allein diese Hürde zu nehmen, spricht schon für eine gewisse Qualität, wenn es nicht gerade darum geht, irgendeine B- oder C-prominente Person zu vermarkten.

Das ist bei dem dystopischen Polit-Thriller “Lügenland” von Gudrun Lerchbaum in keinster Weise der Fall. Die Autorin porträtiert ein von Rechtspopulisten regiertes Österreich der nahen Zukunft. In meiner Rezension in der “Presse” vor ziemlich genau einem Jahr habe ich geschrieben, dass Lerchbaum eine fesselnde Geschichte erzählt. Hauptfigur Mattea möge zwar gewöhnungsbedürftig sein, dafür umso lebensechter. Hin- und hergerissen zwischen den Welten der regimetreuen „Aufrechten“ und den Widerstand leistenden „Wertlosen“ versuche sie, einfach nur das Richtige zu tun. Denn durch eine Verwechslung wird ausgerechnet aus dieser gesuchten Mörderin, die bis vor Kurzem als Soldatin der Miliz diente, eine Ikone des Widerstands – in einem Österreich, das einem Überwachungsstaat gleicht. Lerchbaum schaffe es dabei, nicht in simple Gut-gegen-Böse- bzw. Rechts-gegen-links-Schemata zu verfallen.

Besonders gefallen hat mir der für einen Debütroman außergewöhnlich mutige Beginn: Lerchbaum lässt Mattea gleich auf den ersten Seiten eine Freundin scheinbar grundlos erschießen. Damit ist diese als Heldin wenig geeignet. Auch sonst präsentiert sich Mattea vorerst wenig sympathisch.

Doch ich habe in  meinem Text auch Kritik geübt. Das Porträt des Landes sei ambivalent geraten: “Die Parolen und Reden des rechtspopulistischen Kanzlers („Ob kunstverseucht, ob bipolar, ob süchtig oder unfruchtbar – die rechte Waffe in der Hand macht euch zum Teil der Heldenschar!“) sind für mich in einer nahen Zukunft nicht so recht vorstellbar. Auch entsteht manchmal der Eindruck, die Autorin habe sich Anleihen an der erfolgreichen „Tribute von Panem“-Trilogie genommen.”

Tja, und dann habe ich kürzlich zufällig einen Blogeintrag von Gudrun Lerchbaum entdeckt. Darin nimmt sie auf meinen Text Bezug:

“Als ich zum Frühstückstisch komme, liegt die Zeitung bereits dort und mein Mann ist recht gedrückter Stimmung. Offenbar unterschätzt er meine Frustrationstoleranz, doch ich bin bestens vorbereitet. Glücklicherweise durch eine liebe Bekannte aus der Presse-Redaktion vorab von der Rezension informiert, konnte ich mich in zwei schlafarmen Nächten gut auf den Moment einstellen. Nicht umsonst bin ich auch an diesem Morgen lange Zeit wach im Bett gelegen und habe die unumstößliche Überzeugung aufgebaut, dass mein Buch gnadenlos verrissen wird. Ganz klar, ich werde den Artikel einfach nicht lesen. Tue ich dann doch, nach etwa einer Minute Bedenkzeit.”

Ich muss zugeben, das hat nun mich nachdenklich gemacht. Die arme Autorin verbringt zwei schlafarme Nächte – wegen mir! Ich fühle mich wie ein Inquisitor. Doch mir liegt nichts ferner als ein gnadenloser Verriss. Ich will einerseits ehrlich meine Meinung kundtun, die aber andererseits niemals ein simples Geschmacksurteil sein soll, sondern das Buch mit all seinen Stärken und Schwächen im Kontext des Genres verorten soll.

Dennoch bin ich Gudrun Lerchbaum dankbar für ihre Zeilen, die mich daran erinnern, dass ich das Werk des Autors oder der Autorin mit den mir zur Verfügung stehenden Werkzeugen, Erfahrung und dem Wissen über (Kriminal-)Literatur immer nur interpretieren kann. Sie gewährt mir einen wertvollen Blick auf die andere Seite, der mir aber auch eines zeigt: Autorin und Rezensent eint die Liebe zur gepflegten Kriminalliteratur.

Kritik als Liebeserklärung

Die von mir sehr geschätzte Sonja Hartl bringt es diesbezüglich übrigens perfekt auf den Punkt: “Kritik ist eine Form der Liebe, die nicht Affirmation, sondern Auseinandersetzung meint – und hinter der sich womöglich eine Einstellung zum Leben verbirgt. Schließlich kritisieren wir oft, was oder wen wir am meisten lieben.”

Und: “Ein_e Autor_in steckt in ein Buch Zeit, Mühe, Arbeit und Leidenschaft. Wenn ich ein Buch kritisiere, dann stecke ich in die Lektüre und die Kritik Zeit, Mühe, Arbeit und Leidenschaft. Weil ich das Werk respektiere, es ernst nehme und glaube, dass durch Kritik Kunst vermittelt wird – nicht im Sinne von „erklärt“, sondern im Sinne von „darauf aufmerksam gemacht“.”

7 von 10 Punkten

Gudrun Lerchbaum: „Lügenland“, Pendragon Verlag, 431 Seiten.

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Paula Hawkins: Into the Water

(c) Blanvalet

Paula Hawkins hat mit “Girl on the Train” einen Thriller geschrieben, der sie mit einem Schlag in die Topliga der Krimiautoren katapultiert hat. Das Buch wurde sofort verfilmt. Die Erwartungen vor dem Nachfolger “Into the Water” waren also nicht gerade gering. Da ich ihr Erfolgsdebüt nicht gelesen habe, fehlt mir nun zwar der Vergleich, aber ich wollte mir doch ein Bild von den Qualitäten der Autorin machen.

Diesmal geht es um Frauen, die es seit Jahrhunderten offenbar auf mysteriöse Weise ins Wasser zu ziehen scheint. Ich befürchtete kurz, dass es hier übersinnliche Erklärungen gibt. Aber keine Sorge, Hawkins löst das Rätsel auf logische Weise. Sie lässt diesmal die Geschichte aus Sicht vieler verschiedener Figuren erzählen, vorwiegend Frauen. Das ist manchmal ein wenig unübersichtlich, ich mag das aber grundsätzlich. Und: Ja, Hawkins versteht ihr Handwerk, so viel steht fest.

Sie hat aus meiner Sicht einen spannenden und soliden Kriminalroman geschrieben, der schlüssig konstruiert ist. Das mag vielleicht auch der größte Kritikpunkt sein: Ein wenig konstruiert ist das natürlich schon. Mich hat das in diesem Fall aber nicht sonderlich gestört. Das war mir schon zu Beginn irgendwie klar und sind das nicht viele Thriller dieser Art?

Überrascht musste ich allerdings feststellen, dass “Into the Water” teilweise mit Häme überschüttet wird. Kai Spanke schreibt über das Buch in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” wenig schmeichelhaft: “Während Hawkins in Bezug auf die Todesfälle höhere Geheimniskrämerei kultiviert, schüttet sie am Reißbrett entworfene Konstellationen und klischeehafte Gimmicks ohne jedes Feingefühl über uns aus.” Teilweise ist die Kritik sehr spöttisch: “Insgesamt haben wir es mit elf Hauptfiguren zu tun, die leistungsstarke Überdrusskatalysatoren abgeben, sobald sie sich – obwohl über mancherlei im Bilde – kryptodämlich raunend zu Wort melden.”

Auch Elmar Krekeler zeigt sich in der “Welt” wenig angetan: “Die Männer vergewaltigen, foltern, sind bestenfalls bloß fies, und immer haben sie was zu verbergen. Die Frauen sind Opfer, wissen das, halten aber nicht zusammen helfen sich nicht. Die Stimmen ähneln sich zu sehr, warum wer wie spricht, wird nicht klar. So funzelt sich Paula Hawkins durch ihr falbes Labyrinth. Das halbe Licht ihrer Literatur reicht immerhin, um alles auszuleuchten, was man wissen muss, alles auszuerzählen. Selten hat man ein derart geheimnisloses Buch über Geheimnisse gelesen.”

Hmm. Das ist harte Kritik. Vielleicht lässt sie sich ja auf die ungewöhnliche Widmung am Beginn des Buches zurückzuführen: “Für alle unbequemen Frauen”. Wenn man sich die Kritik so ansieht, dürfte Paula Hawkins auch eine unangenehme Frau sein – noch dazu eine erfolgreiche. Ich bin auf ein drittes Buch und mögliche weitere Kontroversen gespannt. Mir hat jedenfalls gerade dieser weibliche Blick auf die patriarchalisch dominierte Dorfwelt gut gefallen.

7 von 10 Punkten

Paula Hawkins: “Into the Water”, übersetzt von Christoph Göhler, Blanvalet, 480 Seiten.

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Krimis, die man 2017 lesen sollte (VI)

(c) Ars Vivendi

George Pelecanos zählt zu den Großen der US-Kriminalschriftsteller. Mit “Hard Revolution” gibt es nun endlich – erstmals seit fünf Jahren – wieder neuen Stoff. “Big Blowdown” hat mich einst echt begeistert, “Ein schmutziges Geschäft” allerdings weniger. Ich bin jedenfalls gespannt und freue mich, dass der Ars Vivendi Verlag so eine schöne Ausgabe auf den Markt bringt.

Verlagstext: Washington, D. C., 1968: Der junge schwarze Polizist Derek Strange fährt bei der Metropolitan Police mit seinem weißen Partner Streife, während sich die Atmosphäre in der Stadt immer weiter aufheizt: die Bürgerrechtsbewegung und der Marsch der Armen, die traumatisierten Rückkehrer aus Vietnam, Sex, Soul, Drogen, Morde, Unruhen und Rassismus. Inmitten dieser explosiven Gemengelage entspinnt sich ein tödliches Drama: Drei Weiße planen einen Banküberfall und ermorden einen Schwarzen, auch Dereks Bruder Dennis wird umgebracht – und in Memphis wird ein Attentat auf Martin Luther King verübt. Für Derek Strange, seine Freunde und seine Feinde ist nichts wie zuvor. Wer ist gut, wer böse – und wem kann man noch vertrauen? Die alten Kategorien gelten nicht mehr, die Welt ist komplex geworden. Und die Revolution hat gerade erst begonnen …

(c) Droemer

Don Winslow. Was soll ich sagen? Leser dieses Blogs werden wissen, dass “Tage der Toten” für mich ein wichtiger literarischer Meilenstein ist. Dieses Buch hat mich nach Ab- und Umwegen so richtig zur Kriminalliteratur zurückgeführt – und seitdem hat sie mich nicht mehr losgelassen. Ja, Winslow hat seitdem Top-Qualität, aber auch ziemliches Mittelmaß produziert. “Corruption” mag nun nicht der ganz große Wurf sein, dennoch zählt es definitiv zu den besseren Krimis dieses Jahres. Ein bisschen nervt mich auch das Winslow-Bashing mancher Kritiker. Dazu in Kürze mehr.

In den Straßenschluchten von New York lässt der internationale Star-Autor Don Winslow ein alptraumhaft realistisches Szenario von Drogen, Menschenhandel, Mord entstehen. Er zeichnet die todbringende Allianz von staatlichen Stellen und organisiertem Verbrechen: Sie sehen sich als Elitetruppe der Polizei, eine verschworene Einheit, ausgestattet mit weitreichenden technischen und rechtlichen Möglichkeiten. Gemeinsam sollen sie für Ruhe und Ordnung in ihrem Revier sorgen, dem nördlichen Manhattan. Und genau das tun sie. Hier gelten ihre Spielregeln, hier geschieht nichts ohne ihr Wissen. Doch die Truppe ist extremem Stress ebenso ausgesetzt wie extremen Risiken … und extremen Verlockungen …

(c) Penguin

Heuer steht bei der Frankfurter Buchmesse Frankreich im Mittelpunkt. Ich will daher in den nächsten Wochen auch ein wenig auf die aktuelle Kriminalliteratur aus diesem Land blicken. Antonin Varennes “Die Treibjagd” ist dabei fix eingeplant.

Zwei rivalisierende Familien kämpfen seit Generationen um die Herrschaft über ein gottverlassenes Nest im Massif Central. Die Courbiers und die Messenets führen ihre Provinzimperien mit harter Hand und unter rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur. Rémi Parrot, der seit seiner Jugend entstellte Revierjäger, kämpft als einsamer Cowboy gegen die verkrusteten Clanstrukturen und um die Liebe der schönen Michèle Messenet. Als er einem Umweltskandal auf der Spur ist, beginnt eine mörderische Treibjagd durch düstere Wälder und unterirdische Tunnelsysteme. Fein gesponnener, archaischer Thriller um Schuld und Sühne vor der grandiosen Kulisse einer einstmals erhabenen Landschaft.

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Krimi-Bestenliste August: Ein Abgleich

(c) Suhrkamp

Die Krimi-Bestenliste vom August entspricht großteils meiner geplanten Leseliste der nächsten Wochen. Sowohl die neue Nummer eins, “Die Lieferantin”, als auch “Die Treibjagd”, “Hard Revolution”, “Beton Rouge” und “Alles so hell da vorn” stehen auf meinem kriminalliterarischen Speiseplan. In der Lektüre von Becks Buch stecke ich gerade und ich bin durchaus begeistert.

Larry Browns “Fay” werde ich wohl schon angesichts des Umfangs, 656 Seiten, eher ausschließen. Und auch Carsten Jensens Buch “Der erste Stein” hat über 600 Seiten…

Die restlichen Krimis sprechen mich inhaltlich jetzt nicht so ganz an, aber ich werde mal erste Rezensionen abwarten, ob ich hier nicht irgendetwas verpasse.

Die Liste im Überblick:

1. Zoë Beck: Die Lieferantin (9)
2. Antonin Varenne: Die Treibjagd (-)
3. Larry Brown: Fay (-)
4. George Pelecanos: Hard Revolution (10)
5. Simone Buchholz: Beton Rouge (-)
6. Monika Geier: Alles so hell da vorn (1)
7. Carsten Jensen: Der erste Stein (2)
8. Graeme Macrae Burnet: Das Verschwinden der Adèle Bedeau (-)
9. Donato Carrisi: Der Nebelmann (-)
10. Robert Hültner: Lazare und der tote Mann am Strand (-)

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Joe Ide: IQ

(c) Suhrkamp

(c) Suhrkamp

Isaiah Quintabe hat Köpfchen – deshalb wird er auch IQ genannt. Sein Bruder Marcus hat daher vor allem die Sorge, dass IQ sein Talent in seinem Hood in Los Angeles wegwirft. Er predigt ihm daher: “Gott hat dir keine Begabung geschenkt, damit du Hedgefonds-Manager wirst. Wenn du diesen Weg einschlägst, mich enttäuschst, dir einen Bentley kaufst oder ein Grundstück mit Golfplatz, dann tret – ich – dir – in den Arsch.”

Das Buch wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Einerseits gerät IQ im Jahr 2005 nach einem Todesfall völlig aus der Bahn, nämlich auf die schiefe Bahn. Er wird als Einbrecher kleinkriminell – aber immer mit Köpfchen. Das hat er mit seinem leichtsinnigen Gehilfen Dodson auch schwer nötig, um sich aus verzwickten Situationen zu retten. Autor Joe Ide liefert da wirklich ein paar genial-komische Szenen. Das macht richtig Spaß beim Lesen.

Und dann gibt es die zweite Zeitebene, die parallel zur ersten erzählt wird. Im Jahr 2013 hat IQ die Kurve gekratzt. Er hat sich in seinem Hood als Detektiv, der seinen Nachbarn hilft, einen Namen gemacht. Nun muss er herausfinden, wer hinter den Mordanschlägen auf Rapper-Ikone Murda One steckt.

“Wobei Calvin eigentlich gar keine wollte, aber Kinderkriegen war gerade angesagt, ein Fashion Statement. Wenn man kein Baby hatte, das man Zippy oder Apple Pie taufte, war man echt total out.”

Es ist faszinierend, wie leichtfüßig Joe Ide eine schlüssige Detektivgeschichte mit viel skurrilem Personal erzählt, ohne je in billigen Klamauk abzudriften. Er liefert sehr einfühlsame, tiefe Momente. Es geht auch um Schuld und Sühne. Wie kann  man nach schlimmen Taten weitermachen? Kann man, obwohl man Böses getan hat, auch noch Gutes tun?

8 von 10 Punkten

Joe Ide: “IQ”, übersetzt von Conny Lösch, 388 Seiten, Suhrkamp.

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