Monthly Archives: October 2020

Zoë Beck: Paradise City

(c) Suhrkamp


Bislang hat sich Zoë Beck vor allem einen Namen als Autorin ausgezeichneter Kriminalromane gemacht. Technik spielte dabei in ihren zeit- und sozialkritischen Thrillern immer eine wichtige Rolle. In “Die Lieferantin” ging es um Drogenhandel per Drohne und in “Brixton Hill” um ein Luxus-Hochhaus, in dem der Strom ausfällt. Mit “Paradise City” macht die in Berlin lebende Deutsche so gesehen nun eigentlich nur einen weiteren logischen Schritt.

Das Buch spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Algorithmen – und nicht die Politik – über viele Bereiche des Lebens entscheiden. Deutschland, das von Seuchen und Umweltkatastrophen heimgesucht wurde, befindet sich endlich wieder im Aufschwung. Der Regierungssitz wurde nach Frankfurt verlegt, Berlin dient nur mehr als Kulisse für Touristen. Es scheint eine schöne neue Welt zu sein, die hier entstanden ist. Bloß sollte man keinen zweiten Blick darauf werfen.

Bürgerrechte? Kein Interesse

Die Demokratie, wie wir sie kennen, hat in der jahrzehntelangen Krisenzeit massiv gelitten. Für Bürgerrechte scheint sich niemand mehr zu interessieren. Staatliche Nachrichtenagenturen beherrschen die Medienlandschaft. Unabhängiger Journalismus, dessen Hauptrolle mittlerweile darin besteht, Fake News aufzudecken und den Wahrheitsgehalt der staatlichen Quellen zu hinterfragen, wird von allen Seiten in Verruf gebracht. An investigativen Journalismus ist kaum mehr zu denken. Ohnehin glaubt niemand mehr an die Existenz einer objektiven Wahrheit: “Der Mensch glaubt sowieso nur, was er glauben will”, heißt es an einer Stelle. Das Gesundheitssystem basiert auf schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, die eine Software trifft; auf Datenschutz beharrt nur, wer etwas zu verbergen hat. Wer sogenannte Videoblocker verwendet, um die automatische Gesichtserkennung zu verhindern, macht sich verdächtig.

Liina ist Rechercheurin bei Gallus, einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale. Als sie in die Provinz geschickt wird, um den ungewöhnlichen Fall einer angeblichen Schakal-Attacke zu untersuchen, fühlt sie sich von ihrem Chef ausgebootet. Als dieser kurz darauf bei einem seltsamen Unfall beinahe stirbt, wird Liina aber langsam klar, dass es bei all dem um viel mehr gehen dürfte – und dass auch sie selbst, die vor Jahren eine lebenswichtige Organtransplantation erhalten hat, dabei eine wichtige Rolle spielt.

Die vielseitige Autorin, die auch Bücher von Genre-Größen wie Gerald Seymour und Denise Mina übersetzt hat, als Synchron-Regisseurin sowie als Verlegerin (CulturBooks) tätig ist, hat in “Paradise City” nicht bloß die Handlung in die Zukunft verlegt. Ihr dystopischer Roman lässt sich in keine Schublade stecken. Es mag zwar Thriller auf dem Cover stehen, doch das Buch ist viel mehr als bloße Spannungsliteratur. Es macht nachdenklich und hinterlässt Spuren, Liinas Leidensweg berührt. Becks Stärke liegt darin, diesen nicht voyeuristisch auszuschlachten, sondern Stück für Stück ihre Figur begreifbar zu machen. Puzzleteil für Puzzleteil wird die Persönlichkeit offenbart – inklusive all der Rätsel, die jedem Individuum anhaften, wie gut man es auch zu kennen glaubt.

Apokalypse ohne Helden

Ebenso wie ihrem Kriminalschriftsteller-Kollegen Tom Hillenbrand (“Drohnenland”, “Hologrammatica”, “Qube”) gelingt es Beck perfekt, einen faszinierenden Blick in eine mögliche Zukunft zu werfen. Und ihre Botschaft ist klar: So düster und maschinengetrieben die Welt dann auch sein mag, letztlich zählt doch vor allem die Menschlichkeit.

Auffällig ist, dass neben Liina nahezu alle relevanten Charaktere der fesselnden Geschichte Frauen sind – Beck steht damit im besten Sinne in der Tradition der großartigen Margaret Atwood. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der wichtigste Mann, Liinas Chef, bezeichnenderweise zum Opfer wird. Zoë Beck bestätigt eindrucksvoll: Apokalyptische Szenarien kommen auch ganz gut ohne einsame, schweigsame Cowboys aus.

9 von 10 Punkten

Zoë Beck: “Paradise City”, Suhrkamp Verlag, 281 Seiten.

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Tommie Goerz: Meier

(c) Ars Vivendi

Zehn Jahre lang hat Meier im Gefängnis gesessen, wegen Mordes – unschuldig. Als er wieder in Freiheit kommt, versucht er sein Leben in den Griff zu bekommen. Er agiert wohlüberlegt und schreckt auch vor kriminellen Taten nicht zurück, um sich finanziell über Wasser zu halten. Autor Tommie Goerz porträtiert in “Meier” einen vom Leben Betrogenen, der nicht akzeptiert, Opfer zu sein. Als sich Meier durch Zufall die Möglichkeit zur Rache bietet, zögert er nicht.

Atmosphärisch sehr dicht erzählt, überzeugt diese “Ballade des zufriedenen Knackis”, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” schreibt, in vielen Punkten. Einziges Manko des schmalen Buches: Es sind dann doch ein paar Zufälle zu viel: Dass er den eigentlichen Schuldigen seiner Haftstrafe zufällig wiedersieht, ein Beweisstück zufällig auftaucht – an einem Ort, an den Meier wohl nie im Leben kommen würde. Das ist nicht ganz glaubwürdig. Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass der Autor sein Buch ohne wirklichen Plan geschrieben hat, wie er auf “BR.de” sagt. Das ist einerseits sein großes Plus, weil es nicht in irgendein Schema hineinfällt, aber eben auch sein großes Minus.

Für den ersten Versuch im Hardboiled-Genre ist “Meier” aber eine echte Überraschung im positiven Sinne, zumal der Autor bislang vor allem für seine “Bierkrimis” um den schrullig-kauzigen Kommissars Friedemann “Friedo” Behütuns bekannt war.

7 von 10 Punkten

Tommie Goerz: “Meier”, Ars Vivendi Verlag, 160 Seiten.

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Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

Mit “Sommer bei Nacht” hat der deutsche Krimiautor Jan Costin Wagner ein außergewöhnliches Buch über Trauer, Verlust und Ängste geschrieben.

Ben Neven ist Polizist. Der Vater einer Tochter ermittelt im Fall eines verschwundenen Kindes. Nach einem stressigen Tag sitzt der Ermittler vor seinem Notebook. Er ruft einschlägige Videos auf, um sich Erleichterung zu verschaffen – und onaniert. So weit ist das nicht ungewöhnlich. Doch er betrachtet dabei zwei kleine Buben, die nackt am Strand spielen.

Ein pädophiler Ermittler? Darf das sein? Ja, denn Jan Costin Wagners “Sommer bei Nacht” ist ein außergewöhnlicher Kriminalroman. Es geht ihm nicht darum, eine sensationalistische Geschichte geschmacklos auszuschlachten. Multiperspektivisch erzählt er davon, was passiert, wenn sich die heile Welt von einem Moment auf den nächsten in Luft auflöst: aus Sicht der Eltern des Entführten, dessen Schwester, diverser Ermittler und auch des Täters sowie eines Mitwissers. Hier hat wirklich jede Figur ihre ganz eigene Stimme.

Dem Autor geht es nicht darum, Gut-gegen-Böse-Stereotype zu befördern, vielmehr versucht er, allen Beteiligten gerecht zu werden – ohne zu verurteilen. Er erzählt von Menschen, nicht von Monstern. Es sind anrührende kleine Szenen, die er schildert und für die im Krimi-Genre sonst kaum Platz ist.

Auch deshalb bezeichnet man ihn gern als den Literaten unter den deutschsprachigen Kriminalschriftstellern (“Tage des letzten Schnees”). Wie auch immer: Trauer, Verlust und Ängste – kaum jemand versteht es so gut wie Wagner, diese Gefühle literarisch abzuhandeln.

8 von 10 Punkten

Jan Costin Wagner: “Sommer bei Nacht”, Galiani Berlin Verlag, 312 Seiten.

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Wallace Stroby: Zum Greifen nah

(c) Pendragon Verlag

Mit der Berufsverbrecherin Crissa Stone (“Kalter Schuss ins Herz”, “Fast ein guter Plan”, “Geld ist nicht genug”, “Der Teufel will mehr”) hat US-Krimiautor Wallace Stroby eine Kultfigur erschaffen – ein weibliches Pendant zu zwei echten kriminellen Serien-Größen des Genres: Parker (von Richard Stark) und Wyatt (von Garry Disher).

Noch vor seiner vierteiligen Crissa-Stone-Serie schrieb Stroby aber bereits ein Buch rund um eine weitere starke Frau, die Polizistin Sara Cross. Mit “Zum Greifen nah” liegt der gepflegte Noir nun erstmals auf Deutsch vor. Cross gerät in ein Dilemma, als sie an der Notwehr-Version eines Kollegen (noch dazu ihr Ex-Freund) zu zweifeln beginnt. Eine knifflige Situation, fesselnd zu lesen.

Das Buch ist mehr als nur eine Fingerübung für die spätere Crissa-Stone-Serie. Glaubwürdig schildert Stroby die Zwickmühle, in der Sara steckt. Sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem manipulativen Ex-Freund, ihrem Vorgesetzten und ihrer Rolle als Mutter eines Sohnes, den sie beschützen will. Jede dieser drei Saras hat eine andere Loyalität. Schon bald ist ihr klar, dass die Suche nach der Wahrheit gefährlich ist. Wie kann sie das Richtige tun?

Fazit: Stroby hat es drauf, egal ob er aus Polizisten- oder Verbrechersicht erzählt. Bleibt zu hoffen, dass der Pendragon-Verlag diesem Autor treu bleibt und uns in den nächsten Jahren noch mehr Stoff liefert.

Wallace Stroby: “Zum Greifen nah”, übersetzt von Bernd Gockel, Pendragon Verlag, 357 Seiten.

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