Monthly Archives: May 2018

Hideo Yokoyama: 64

(c) Atrium

Normalerweise lese ich nur sehr selten Kriminalromane, die mehr als 400 Seiten umfassen. Lieber tauche ich zweimal in neue Welten ein als 800-Seiten-Wälzer zu lesen. Aber man muss auch Ausnahmen machen. Das 768 Seiten dicke “64” ist eine solche und es war absolut gut, dieses Buch gelesen zu haben. Und das obwohl dieser außergewöhnliche Krimi alles andere als ein Pageturner ist. Ganz im Gegenteil: Hier wird sehr behutsam und langsam erzählt. Das Etikett “Thriller” ist also nicht optimal. Alles andere aber schon.

Die Spannung entsteht anders: Behutsam erzählt Hideo Yokoyama vom Polizisten Mikami und dessen Lavieren durch das private und berufliche Minenfeld. Jedes eigene Wort will genau überlegt sein, jedes Wort der Gegenspieler richtig gedeutet werden – alles, ob ausgesprochen oder nicht, landet auf einer fein austarierten Waagschale. Hinter der Mauer von Höflichkeit bleibt viel verborgen. Das fesselt zunehmend.

Nüchtern beschreibt der Autor das moderne Japan. Es ist eine faszinierende Reise in eine fremde Welt, auf die er seine Leser mitnimmt. Gleich zu Beginn steht Mikami nach vierstündiger Anreise mit seiner Frau Minako im Leichenschauhaus vor einem toten Mädchen. Seine Tochter Ayumi ist vor drei Monaten spurlos verschwunden. Es ist nicht sein Kind, das da unter dem Laken liegt, aber die quälende Ungewissheit bleibt weiterhin sein erbarmungsloser Begleiter.

Mikami ist Pressedirektor eines kleinen japanischen Polizeireviers. Als wäre sein Leben nicht ohnehin schon in einem unerträglichen Ausnahmezustand, gerät die geordnete Welt auch beruflich plötzlich zu einem unübersichtlichen Schlachtfeld mit vielen Nebenfronten. Der Presseclub, die Vereinigung lokaler Medien, macht Druck, weil sich Mikamis Pressestelle weigert, die Identität einer schwangeren Frau bekannt zu geben, die einen alten Mann mit dem Auto niedergefahren hat.

Zu allem Überfluss kündigt sich auch noch der Generalinspekteur der Nationalen Polizeibehörde an, der einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt plant. Der niemals gelöste Entführungsfall mit dem Aktenzeichen „64“ war einst eine bittere Schmach: Nach der erfolgten Lösegeldübergabe konnte das entführte Mädchen nur noch tot aufgefunden werden. Vor dem Haus des Vaters des Opfers will der wichtige Mann aus Tokio 14 Jahre nach der Tat verkünden, dass der Fall neu aufgerollt wird. Mikami fällt die undankbare Aufgabe zu, den gebrochenen Vater von diesem PR-Spektakel zu überzeugen.

Für mich sehr fesselnd war der beinharte Machtkampf zwischen dem Kriminaluntersuchungsamt KUA (für das Mikami die meiste Zeit seines Polizistenlebens arbeitete) und der Polizeiverwaltung (für die Mikami aktuell tätig ist). Wie so oft in Kriminalromanen steht dabei Mikami als einziger verbliebener Mitspieler, der noch über so etwas wie einen moralischen Kompass verfügt (ähnlich wie Remi Parrot in “Treibjagd”), zwischen allen Fronten. Mikami will einfach das Richtige tun. Für ihn ist Amamiya, der Vater des entführten und getöteten Kindes, als Mensch wichtig – nicht, um seine Karriere voranzutreiben. Er will die Wahrheit wissen, während andere ihre Ränkespiele treiben und bloß um ihre Positionen besorgt sind.

9 von 10 Punkten

Hideo Yokoyama: “64”, übersetzt von Sabine Roth und Nikolaus Stingl, 768 Seiten, Atrium Verlag.

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Krimi-Bestenliste Mai: Ein Abgleich

(c) Atrium

Drei der Top-5-Krimis der Mai-Liste habe ich mittlerweile gelesen. Über Adrian McKintys “Dirty Cops” habe ich zuletzt geschrieben, meine Beiträge zu Hideo Yokoyamas “64” und Garry Dishers “Leiser Tod” folgen hier in Kürze. Alle drei Romane gehören definitiv zum Besten, was das Genre momentan zu bieten hat.

Was gibt es zu den weiteren Büchern zu sagen? Denise Minas “Blut Salz Wasser” ist für mich Pflicht. 2015 hat mich ihr Krimi “Das Vergessen” ziemlich begeistert. Tja, Aidan Truhens “Fuck You Very Much” hätte ich eigentlich angesichts der gelungenen, aber ein wenig übercoolen Aufmachung eher als gehyptes Buch abgetan – dass es nun hier auftaucht, macht mich wieder neugierig.

Graeme Macrae Burnet wird hoch gelobt, daher will ich “Der Unfall auf der A 35” unbedingt lesen. Fein auch, dass die Kultfigur Bernie Gunther des kürzlich verstorbenen Autors Philipp Kerr mit “Kalter Frieden” hier Niederschlag findet.

Die Liste im Überblick:

1. Hideo Yokoyama: 64 (1)
2. Denise Mina: Blut Salz Wasser (-)
3. Garry Disher: Leiser Tod (2)
4. Aidan Truhen: Fuck You Very Much (-)
5. Adrian McKinty: Dirty Cops (-)
6. Carlo Bonini: ACAB. All Cops Are Bastards (5)
7. Matthias Wittekindt: Die Tankstelle von Courcelles (-)
8. Sarah Schmidt: Seht, was ich getan habe (9)
9. Philip Kerr: Kalter Frieden (-)
10. Graeme Macrae Burnet: Der Unfall auf der A 35 (-)

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Adrian McKinty: Dirty Cops

(c) Suhrkamp Nova

“Dirty Cops” ist bereits der sechste Kriminalroman rund um den katholischen Polizisten Sean Duffy, der sich im Nordirland der 1980er Jahre behaupten muss. Zum Inhalt: Ein Drogendealer wird tot aufgefunden. Alltäglich? Nicht ganz, immerhin hat der Mann einen Pfeil im Rücken, also kein klassisches Handwerkszeug der IRA.

Obwohl sich der Autor diesmal mit Bezügen zu real existierenden Personen bzw. zu fiktiven Ereignissen mit realen Personen (der niemals stattgefundene Auftritt Muhammed Alis in “Rain Dogs”) zurückhält, hat sein Buch wieder vieles zu bieten. McKinty beginnt etwa mit einem Prolog, nach dem man sich fragt, wie Sean Duffy diesmal lebend aus dem Buch kommen will. Dem mittlerweile in Australien lebenden nordirischen Autor würde man alles zutrauen. Aber mehr sei hier nicht verraten.

Hauptfigur Sean Duffy wirkt im aktuellen Buch gereifter. Kein Wunder, er ist Vater eines kleinen Kindes und hat mehr Verantwortung. Seine Sichtweise auf die Dinge hat sich verändert. Er zeigt sich kompromissbereiter. Das muss er auch sein, will er seine Freundin Beth nicht verlieren, die von einem eigenen Haus in der Idylle träumt. Der tief in der Coronation Road, der Beth nur wenig abgewinnen kann, verwurzelte Polizist tut sich damit allerdings schwer.

McKintys Mix zwischen überzeugender Krimihandlung, unvergleichlichem Setting, feiner Charakterzeichnung, subtilem Humor und dem Spiel mit Genre-Konventionen sucht seinesgleichen. McKinty schreibt klassische Krimis, die dann doch ganz etwas Neues sind. Sie sind stets ausgeklügelt, wirken aber nicht konstruiert.

Auch wer über den Nordirland-Konflikt Bescheid wissen will, dem kann man nur eines, aber am besten alle Bücher der Duffy-Serie empfehlen. Hier taucht man atmosphärisch ganz tief ein. Das kann ein Sachbuch gar nicht leisten.

Auf seinem Blog schreibt der Autor übrigens, dass es drei weitere Sean-Duffy-Teile geben wird. Er verrät auch schon die Titel der Bücher und skizziert kurz, worum es darin gehen wird.

Hier meine Eindrücke der fünf Duffy-Vorgänger:

“Der katholische Bulle”

“Die Sirenen von Belfast”

“Die verlorenen Schwestern”

“Gun Street Girl” (mein persönlicher Favorit)

“Rain Dogs”

9 von 10 Punkten

Adrian McKinty: “Dirty Cops”, übersetzt von Peter Torberg, 392 Seiten, Suhrkamp Nova.

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