Normalerweise lese ich nur sehr selten Kriminalromane, die mehr als 400 Seiten umfassen. Lieber tauche ich zweimal in neue Welten ein als 800-Seiten-Wälzer zu lesen. Aber man muss auch Ausnahmen machen. Das 768 Seiten dicke “64” ist eine solche und es war absolut gut, dieses Buch gelesen zu haben. Und das obwohl dieser außergewöhnliche Krimi alles andere als ein Pageturner ist. Ganz im Gegenteil: Hier wird sehr behutsam und langsam erzählt. Das Etikett “Thriller” ist also nicht optimal. Alles andere aber schon.
Die Spannung entsteht anders: Behutsam erzählt Hideo Yokoyama vom Polizisten Mikami und dessen Lavieren durch das private und berufliche Minenfeld. Jedes eigene Wort will genau überlegt sein, jedes Wort der Gegenspieler richtig gedeutet werden – alles, ob ausgesprochen oder nicht, landet auf einer fein austarierten Waagschale. Hinter der Mauer von Höflichkeit bleibt viel verborgen. Das fesselt zunehmend.
Nüchtern beschreibt der Autor das moderne Japan. Es ist eine faszinierende Reise in eine fremde Welt, auf die er seine Leser mitnimmt. Gleich zu Beginn steht Mikami nach vierstündiger Anreise mit seiner Frau Minako im Leichenschauhaus vor einem toten Mädchen. Seine Tochter Ayumi ist vor drei Monaten spurlos verschwunden. Es ist nicht sein Kind, das da unter dem Laken liegt, aber die quälende Ungewissheit bleibt weiterhin sein erbarmungsloser Begleiter.
Mikami ist Pressedirektor eines kleinen japanischen Polizeireviers. Als wäre sein Leben nicht ohnehin schon in einem unerträglichen Ausnahmezustand, gerät die geordnete Welt auch beruflich plötzlich zu einem unübersichtlichen Schlachtfeld mit vielen Nebenfronten. Der Presseclub, die Vereinigung lokaler Medien, macht Druck, weil sich Mikamis Pressestelle weigert, die Identität einer schwangeren Frau bekannt zu geben, die einen alten Mann mit dem Auto niedergefahren hat.
Zu allem Überfluss kündigt sich auch noch der Generalinspekteur der Nationalen Polizeibehörde an, der einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt plant. Der niemals gelöste Entführungsfall mit dem Aktenzeichen „64“ war einst eine bittere Schmach: Nach der erfolgten Lösegeldübergabe konnte das entführte Mädchen nur noch tot aufgefunden werden. Vor dem Haus des Vaters des Opfers will der wichtige Mann aus Tokio 14 Jahre nach der Tat verkünden, dass der Fall neu aufgerollt wird. Mikami fällt die undankbare Aufgabe zu, den gebrochenen Vater von diesem PR-Spektakel zu überzeugen.
Für mich sehr fesselnd war der beinharte Machtkampf zwischen dem Kriminaluntersuchungsamt KUA (für das Mikami die meiste Zeit seines Polizistenlebens arbeitete) und der Polizeiverwaltung (für die Mikami aktuell tätig ist). Wie so oft in Kriminalromanen steht dabei Mikami als einziger verbliebener Mitspieler, der noch über so etwas wie einen moralischen Kompass verfügt (ähnlich wie Remi Parrot in “Treibjagd”), zwischen allen Fronten. Mikami will einfach das Richtige tun. Für ihn ist Amamiya, der Vater des entführten und getöteten Kindes, als Mensch wichtig – nicht, um seine Karriere voranzutreiben. Er will die Wahrheit wissen, während andere ihre Ränkespiele treiben und bloß um ihre Positionen besorgt sind.
9 von 10 Punkten
Hideo Yokoyama: “64”, übersetzt von Sabine Roth und Nikolaus Stingl, 768 Seiten, Atrium Verlag.