Der 17-jährige Tyler versucht anständig zu bleiben, ein guter Mensch zu sein. Das sagt sich leichter als es ist, denn der Jugendliche lebt in einem herabgekommenen Viertel in der schottischen Stadt Edinburgh und wird von seinem sadistischen Bruder Barry gezwungen, gemeinsam mit Schwester Kelly in fremde Häuser einzubrechen. Von der Mutter ist keine Hilfe zu erwarten, sie hängt an der Nadel und wandelt von Überdosis zu Überdosis.
Tylers Rettungsanker ist seine kleine Schwester Bean, um die er sich liebevoll kümmert. So gut er kann, versucht er für das Kind die Realität auszublenden, um dem Mädchen eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Mit ihr sitzt er abends auf dem Dach des Greendykes House, einem von zwei verbliebenen Hochhäusern (umgeben von Brachland und einer riesigen Baustelle), und erzählt ihr Geschichten, in denen sie eine Superheldin ist.
Als Barry bei einem Einbruch eine Frau niedersticht und lebensgefährlich verletzt, laufen die Dinge endgültig aus dem Ruder: Bei dem Opfer handelt es sich um niemand geringeren als die Frau des gefürchteten Gangsterbosses Deke Holt, der auf Rache gegen die unbekannten Täter schwört.
Tyler nimmt sein Schicksal an, so bitter es auch sein mag. Die gut gemeinten Aufmunterungen von Lehrerinnen und Polizistinnen ob seiner familiären Situation erträgt er kaum: “Er hatte dieses Mitgefühl so unendlich satt.” Für Selbstmitleid ist ohnehin kein Platz. Er kennt kein anderes Leben. Wie sehr seine Mutter auch gesunken sein mag, sie ist seine Mutter. Genauso verhält es sich mit seinem Bruder, von dem er verachtet wird. So sehr Tyler den tyrannischen Bruder auch hassen mag, verraten würde er ihn nie. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen.
Als Lichtblick in seinem verkorksten Leben entpuppt sich schließlich Flick, ein Mädchen aus gutem Hause, das Tyler zufällig kennenlernt. Ihre beiden Leben könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch sind sich die beiden durch ihre gesammelten Erfahrungen ähnlicher als man vermuten könnte. Das zart aufkeimende Gefühl der Hoffnung wird aber schon bald abrupt durch die absolute Auswegslosigkeit der Situation, in der er sich befindet, abgewürgt.
Empathie, nicht Gefühlsduselei, ist es, was “Der Bruch” ausmacht. Dadurch berüht der Autor, der die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der versucht, sich selbst zu finden und treu zu bleiben. Ich habe mich beim Lesen an Bill Beverlys “Dodgers” (Platz zwei meiner Lieblingskrimis 2018; ich habe gerade entsetzt festgestellt, dass ich das Buch hier nie extra besprochen habe – das muss ich bald nachholen!) und Steve Hamiltons “Der Mann aus dem Safe” erinnert gefühlt, die zu jenen Kriminalromanen zählen, die bei mir lange nachgewirkt haben. Auch in den beiden erwähnten Büchern stehen jeweils ein 15-jähriger und ein 17-Jähriger im Zentrum der Geschichte.
Was mir auch gut gefallen hat: Immer wieder stöpselt Tyler die Kopfhörer ein und taucht in seine eigene Welt ab. Er hört Boards of Canada, Jon Hopkins, Four Tet und Hannah Peel – alles Künstler, die mir bis zur Lektüre nichts gesagt haben, deren Musik ich über Spotify aber beim Lesen gehört habe. Großteils blubbernde Elektronik, passend minimalistisch zur verwahrlosten Gegend. Johnstone hat also den Soundtrack zu diesem Buch gleich mitgeliefert.
“Eine schonungslose, aber sympathische Darstellung von Edinburghs ignorierter Unterschicht, mit großartigen Charakteren”. So beschreibt der schottische Krimi-Großmeister Ian Rankin das Buch. Treffender kann man es nicht formulieren. Oder vielleicht doch: Der schottische Autor Doug Johnstone hat einen Kriminalroman geschrieben, wie man ihn nur alle paar Jahre liest.
10 von 10 Punkten
Doug Johnstone: “Der Bruch”, übersetzt von Jürgen Bürger, Polar Verlag, 308 Seiten.
Die Zeit der Jahresrückblicke ist eigentlich schon vorbei, aber ich wollte mich nicht unter Stress setzen und habe mir deshalb Zeit gelassen. 2020 war vielleicht nicht das beste Krimijahr, aber schlecht war es auch nicht.
Ich will allerdings nicht lange herumreden und einfach beginnen. Diesmal habe ich zwölf Kriminalromane ausgewählt, sechs haben Männer geschrieben, sechs Frauen verfasst.
Platz 12 – Steph Cha: “Brandsätze”
(c) Atrium Verlag
In Steph Chas “Brandsätze” geht es um Rassismus und Diskriminierung in den USA. Wie komplex und verworren die Situation tatsächlich oft ist, macht die Autorin am Schicksal zweier Familien klar. Da ist einerseits Shawn Matthews, dessen Schwester Ava im Jahr 1991 von einer koreanischen Ladenbesitzerin erschossen wurde. Und andererseits Grace Park, die Tochter der Täterin von damals, die ungestraft davon kam.
Schuld, Reue, Rache und Vergebung – darum dreht sich der mitreißende Roman der US-Autorin mit koreanischen Wurzeln. Cha interessiert sich für Opfer und Täter. Sie zeigt auf, wie leicht man von dem einen zum anderen werden kann, wie verschwimmend die Grenzen zwischen richtig und falsch sein können.
Platz 11 – Jeannine Cummins: “American Dirt”
(c) Rororo
Jeannine Cummins “American Dirt” hat im Vorjahr für einiges Aufsehen gesorgt. Vor allem ihr Nachwort löste eine Welle der Kritik aus. Meiner Meinung nach nur begrenzt berechtigt. Denn tatsächlich berührt die fiktive Geschichte der 2600 Meilen langen Flucht der mexikanischen Buchladenbesitzerin Lydia.
Gleich zu Beginn wird fast ihre gesamte Familie, insgesamt 16 Menschen, von Killern eines Drogenkartells brutal ermordet. Bloß sie und ihr achtjähriger Sohn Luca überleben das Gemetzel. Lydia, Frau eines Journalisten, der ein kritisches Porträt über einen Drogenboss verfasst hat, zögert nicht und packt zwei Rucksäcke. Es gibt nur eine Chance: die Flucht nach Norden, in die USA.
Platz 10 – Frank Göhre: “Verdammte Liebe Amsterdam”
(c) Culturbooks
“Verdammte Liebe Amsterdam” ist ein beeindruckendes Krimi-Destillat, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Der deutsche Krimi-Veteran Frank Göhre befreit sich von jeglichem Wörterballast und bleibt immer am Punkt.
Er treibt seine Geschichte voran, die Köster zur soeben zur Polizistenwitwe gewordenen Martina, deren neuem Freund Klaus – noch dazu einem Kollegen des Verstorbenen – und deren verschwundener Tochter Suse führt. Hat der Tod seines Bruder mit dem Verschwinden des 15-jährigen Mädchens zu tun? Und wo ist das Mädchen jetzt?
Platz 9 – Don Winslow: “Broken”
(c) Harper Collins
Mit seiner epischen Drogentrilogie (“Tage der Toten”, “Das Kartell”, “Jahre des Jägers”) hat Don Winslow seinen Ruf als einer der besten Thriller-Autoren unserer Zeit gefestigt. Dass er aber nicht nur bis zur Unerträglichkeit realistische Bücher schreiben kann, beweist er eindrucksvoll mit “Broken”: sechs Kurzgeschichten, jeweils um die 80 bis 90 Seiten lang.
Ausgerechnet die erste und titelgebende Geschichte, “Broken”, ist die schwächste. Was dann folgt, macht aber echt Spaß. Zu Höchstform läuft Winslow mit seinem Schlussstück “The Last Ride” auf. Bereits der erste Satz packt zu: “Als er das Kind zum ersten Mal sah, war es in einem Käfig.”
Platz 8 – Dominique Manotti: “Marseille.73”
(c) Ariadne Kriminalroman
In “Marseille.73” begibt sich die französische Großmeisterin des politischen Kriminalroman zurück ins Jahr 1973. Die französische Regierung hat soeben beschlossen, Migranten – vor allem jene aus Algerien – stärker zu kontrollieren. Sie schreibt darüber, wie schwer es für Polizisten sein kann, zu ermitteln, wenn das System kein Interesse am Tod eines Einzelnen – weil unbedeutend – hat.
Manotti nimmt sich sehr stark vermeintlich männlicher Themen an: Kriminalität und Korruption. Sie widerlegt damit das geläufige Vorurteil, wenn es um die Unterscheidung von Kriminalliteratur männlicher Autoren und weiblicher Autorinnen geht: “Frauen schreiben populäre Kriminalromane, Männer relevante.”
Platz 7 – Denise Mina: “Götter und Tiere”
(c) Ariadne Kriminalroman
Die Schottin Denise Mina lässt in “Götter und Tiere” erneut die Polizistin Alex Morrow Licht in die Schattenseiten von Glasgow bringen. Als bei einem Raubüberfall in einer Postfiliale ein älterer Mann erschossen wird, ist nichts so klar, wie es im ersten Moment erscheint.
Neben der Krimihandlung erzählt die Autorin die Geschichte des politischen Auf- und Abstiegs des Gewerkschafters Kenny Gallagher, dessen Weste alles andere als sauber ist. Mina will genau hinsehen, Geschehnisse sezieren und Bruchlinien in der Gesellschaft erkennbar machen. Und das tut sie auf bestechende Art und Weise.
Platz 6 – Mike Knowles: “Tin Men”
Am Beginn von “Tin Men” steht der bestialische Mord an einer Polizistin. Das geht auch an hartgesottenen Kollegen wie Os nicht spurlos vorbei. “Drei Einsätze in Afghanistan, zwölf Jahre als Cop – nichts davon hatten ihn auf das Schlafzimmer vorbereitet”. Os, ein Polizist, der zu gewalttätigen Ausbrüchen neigt, soll gemeinsam mit zwei ebenfalls wenig vertrauenserweckenden Polizisten Teil eines Ermittlertrios sein: Cop zwei, Woody, hat ein Drogenproblem und Außenseiter Dennis, Cop drei, sucht bei transsexuellen Prostituierten Trost.
Oft ist es so, dass die Männer in Uniform mehr gegeneinander als miteinander kämpfen. Knowles hat ein “Police Procedural” der anderen Art geschrieben.
Platz 5 – Garry Disher: “Hope Hill Drive”
Garry Disher ist eigentlich ein Fixstarter auf meiner jährlichen Liste.
Der Polizist Paul Hirschhausen fristet in der Kleinstadt Tiverton ein beschauliches Dasein. Garry Dishers Kriminalroman “Hope Hill Drive” nimmt nur langsam Fahrt auf, so als hätte er sich an die Umgebung seiner Hauptfigur angepasst. Denn viel scheint im australischen Outback nicht zu passieren. Doch spätestens als ein Massaker an Pferden die Einwohner erschüttert, wird klar, dass auch das Nirgendwo kein idyllischer Ort ist. Der Autor beweist, dass es keine mit Action vollgepackte Handlung braucht, um Spannung zu erzeugen. Diese entsteht subtil, durch alltägliche Schilderungen und das Zusammenspiel der Charaktere.
Platz 4 – Oyinkan Braithwaite: “Meine Schwester, die Serienmörderin”
(c) Blumenbar
Oyinkan Braithwaites erstes – drei Zeilen umfassendes Kapitel – von “Meine Schwester, die Serienmörderin” wird sich wohl in Zukunft in zahlreichen Lehrbüchern darüber finden, wie man einen (Kriminal-)Roman perfekt beginnen kann: “Ayoola ruft mich mit diesen Worten herbei: Korede, ich habe ihn umgebracht. Ich hatte gehofft, diese Worte nie wieder zu hören.”
Die nigerianisch-britische Autorin hat eine erfrischende Mischung aus fesselndem Thriller und seziermesserscharfem Gesellschaftsporträt geschrieben. Während sich der Leser auf der einen Seite gut unterhält, bringt sie diesem die patriachalisch geprägte Gesellschaft Nigerias näher. Sie zeigt, wie sich zwei Frauen – auf ihre eigene Art und Weise – gegen diese von Männern dominierte Welt zur Wehr setzen.
Platz 3 – Zoë Beck: “Paradise City”
(c) Suhrkamp
“Paradise City” spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Algorithmen – und nicht die Politik – über viele Bereiche des Lebens entscheiden. Deutschland, das von Seuchen und Umweltkatastrophen heimgesucht wurde, befindet sich endlich wieder im Aufschwung. Der Regierungssitz wurde nach Frankfurt verlegt, Berlin dient nur mehr als Kulisse für Touristen. Es scheint eine schöne neue Welt zu sein, die hier entstanden ist. Bloß sollte man keinen zweiten Blick darauf werfen.
Es mag zwar Thriller auf dem Cover stehen, doch das Buch ist viel mehr als bloße Spannungsliteratur. Es macht nachdenklich und hinterlässt Spuren, Hauptfigur Liinas Leidensweg berührt.
Platz 2 – Adrian McKinty: Alter Hund, neue Tricks
“Alter Hund, neue Tricks”, Band acht der Sean-Duffy-Serie, überzeugt erneut in allen Belangen. Duffy, nur mehr Teilzeitpolizist, zweifelt an der Version eines aus dem Ruder gelaufenen Autodiebstahls. McKinty punktet mit Duffys inneren Monologen, popkulturellen Referenzen und Verweisen auf eigene Werke.
Angeblich soll nach Band neun mit Sean Duffy Schluss sein. Doch die Hoffnung bleibt bestehen: Möge dieser Ermittler niemals in Pension gehen!
Platz 1 – Wallace Stroby: “Zum Greifen nah”
Auf Platz eins ist diesmal ein Buch gelandet, das eine klassische Kriminalgeschichte erzählt. Wallace Stroby bricht damit keine Genregrenzen, setzt keine neuen Maßstäbe und erfindet auch nichts neu. Aber es ist ihm gelungen, innerhalb des Genres eine Geschichte zu erzählen, die mich 2020 so gut auf Lesereise mitgenommen hat wie kein anderes Buch.
Noch vor seiner großartigen vierteiligen Crissa-Stone-Serie (“Kalter Schuss ins Herz”, “Fast ein guter Plan”, “Geld ist nicht genug”, “Der Teufel will mehr”) hat Stroby dieses Buch rund um eine weitere starke Frau, die Polizistin Sara Cross, geschrieben. Mit “Zum Greifen nah” liegt der gepflegte Noir nun erstmals auf Deutsch vor. Cross gerät in ein Dilemma, als sie an der Notwehr-Version eines Kollegen (noch dazu ihr Ex-Freund) zu zweifeln beginnt. Eine knifflige Situation, fesselnd zu lesen.
Candice Fox und ich. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Als 2016 der massiv gehypte erste Teil der “Hades”-Trilogie erschien, war ich ziemlich enttäuscht: “Für Fans wilder Serienkiller- oder Horror-Thriller ist das wohl das gefundene Lesevergnügen – und vermutlich wird sogar ein Hollywood-Vielteiler daraus. Aber für mich ist das Kapitel erledigt.”
Und tatsächlich habe ich um die Teile zwei und drei einen großen Bogen gemacht. Aber als dann “Crimson Lake”, der Auftakt zu ihrer nächsten Serie, erschien, gab ich der australischen Autorin noch einmal eine Chance. Zum Glück. Denn da erst wurde mir klar, wie gut diese exzentrische Schreiberin wirklich ist. Erbarmungslos schräg und unkonventionell.
Candice Fox ist nicht die feinfühligste Krimiautorin. Sie steht für abgründig, plakativ und schrill. Wer es realistisch mag, sollte die Finger von ihr lassen. Wenn eine verurteilte Mörderin, die einst als Kinderärztin ein vorbildliches Leben geführt hat, mit jener Polizistin (die von ihren Kollegen gemobbt wird, weil sie eine Villa erbt) gemeinsame Sache macht, die sie einst verhaftet hat, dann klingt das nicht gerade wie aus dem Leben gegriffen.
Das vermisste Mädchen, um deren Suche es eigentlich geht, gerät auch rasch in den Hintergrund. Man sollte sich davon aber nicht abschrecken lassen und auch nicht davon, dass die Australierin den Schauplatz ihrer Geschichte erstmals in die USA verlegt hat. Denn eines kann sie perfekt: spannend unterhalten.
Das beweist sie bereits mit dem ersten Satz: “Ich blickte direkt in die Mündung einer Waffe.” Danach geht es rasant weiter. Man muss nicht alles hinterfragen, was da passiert, sondern sollte sich einfach wohlwollend durch die Geschichte treiben lassen. Das Erzähltalent der Autorin ist unbestreitbar. Da ist nichts verkopft, amüsante Dialoge sind Programm. Und zwischendurch hat sogar eine kleine Maus ihren großen Auftritt.
Auffällig auch: Wie schon in Zoë Becks “Paradise City” spielen Männer hier nur Nebenrollen. Während einem die Mörderin, die Diebin, die Gangsterchefin und die Polizistin ans Herz wachsen, sind Männer hier meist einfach nur Grobiane und Unsympathler. Das ungewöhnliche, selbst anpackende Frauen-Quartett braucht keine heldenhaften Männer.
Kein Wunder also, dass es Fox mit ihrem Buch auch auf Platz 1 der aktuellen Krimi-Bestenliste geschafft hat. Dieser Autorin ist nichts heilig, schon gar nicht irgendwelche Genrekonventionen – und das ist gut so.
8 von 10 Punkten
Candice Fox: “Dark”, übersetzt von Andrea O’Brien, Suhrkamp Verlag, 395 Seiten.
Ich muss zugeben, ich habe gebraucht, um mit Dominique Manottis Stil zurecht zu kommen. Ich habe bereits zwei ihrer Bücher (leider weiß ich nicht mehr, welche) abgebrochen, weil ich den richtigen Zugang nicht finden konnte. Es mag an dem breit aufgestellten “Personal” liegen oder den vielen unbekannten Organisationen mit diversen sich nicht im Hirn verankern wollenden Abkürzungen – man behält nicht immer leicht die Übersicht. Vielleicht waren es aber auch bloß die falschen Bücher zum falschen Zeitpunkt. So etwas gibt es ja manchmal, wie sicher alle Vielleser wissen. Ich bin jedenfalls froh, dass ich es erneut versucht habe. Denn Manotti ist eine großartige Autorin.
In “Marseille.73” begibt sich die französische Großmeisterin des politischen Kriminalroman zurück ins Jahr 1973. Die französische Regierung hat soeben beschlossen, Migranten – vor allem jene aus Algerien – stärker zu kontrollieren. Von einem Tag auf den anderen werden sie zu “sans-papiers”, also illegal im Land befindlichen Personen. Bereits im Prolog wird klar, dass das Thema, über das die Französin eigentlich schreibt, auch heute noch Gültigkeit hat: “Etwas Folgenschweres ist im Entstehen begriffen, und es trägt einen Namen: Rassismus.” Und sie schreibt auch darüber, wie schwer es für Polizisten sein kann, zu ermitteln, wenn das System kein Interesse am Tod eines Einzelnen – weil unbedeutend – hat.
Manotti nimmt sich sehr stark vermeintlich männlicher Themen an: Kriminalität und Korruption. Sie widerlegt damit – ebenso wie Denise Mina – eindrucksvoll eines der geläufigsten Vorurteile, wenn es um die Unterscheidung von Kriminalliteratur männlicher Autoren und weiblicher Autorinnen geht, wie kürzlich Sonja Hartl in einem Beitrag im Online-Literaturmagazin “Culturmag” offengelegt hat: “Frauen schreiben populäre Kriminalromane, Männer relevante.”
9 von 10 Punkten
Dominique Manotti: “Marseille.73”, übersetzt von Iris Konopik, Argument Verlag mit Ariadne, 380 Seiten.
Die Ariadne-Kriminalromane sind seit vielen Jahren Garant für hochqualitative Genre-Kost geworden. Unglaublich, wie ein kleiner Verlag mit seinen weiblichen Autorinnen derart beständig für Unruhe im vorwiegend männlichen Betrieb der zünftigen Kriminalliteratur sorgt.
Erschienen im Vorjahr die faszinierenden Bücher neuer oder zu Unrecht nahezu unbekannter Autorinnen wie Hannelore Cayre (“Die Alte”), Tawni O’Dell (“Wenn Engel brennen”) und Sarah Schulman (“Trüb”), sind in den vergangenen Wochen die Bücher zweier etablierten Größen des “dunkel-realistischen Genres”, wie es der Verlag nennt, herausgekommen. Auf Dominique Manotti werde ich im nächsten Beitrag eingehen, hier will ich mich mit Denise Mina, der “Queen of Tartan Noir”, beschäftigen.
Die Schottin Denise Mina lässt erneut die Polizistin Alex Morrow Licht in die Schattenseiten von Glasgow bringen. “Götter und Tiere” ist der chronologischen Reihenfolge nach der dritte von fünf Morrow-Romanen (ich habe “Das Vergessen” – Teil 4 – und “Blut Salz Wasser” – Teil 5 – gelesen) , der die Serie nun endlich komplettiert. Dem Lesegenuss tut das unregelmäßige Erscheinen der Teile aber keinen Abbruch.
Als bei einem Raubüberfall in einer Postfiliale ein älterer Mann erschossen wird, ist nichts so klar, wie es im ersten Moment erscheint. Martin Pavel, der den Enkelsohn des Getöteten, der ihm bis dahin unbekannt war, beschützt, verhält sich seltsam. Zudem hat der Student das titelgebende Zitat “Gods and Beasts” auf seinem Hals tätowiert. Dieses stammt von Aristoteles und meint jene Lebewesen, “die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer bedürfen”.
Aber auch das Verhalten des alten Mannes in den letzten Minuten seines Lebens ist eigenartig. Parallel dazu erzählt die Schottin die Geschichte des politischen Auf- und Abstiegs des Gewerkschafters Kenny Gallagher, dessen Weste alles andere als sauber ist.
Laudan bringt es im Vorwort auf den Punkt: “Das ist clevere und scharf sozialkritische zeitgenössische Kriminalliteratur, die mit klassischen Mustern des Genres spielt, dem Publikum viel zutraut und auch viel zumutet.” Minas Blick für die Details des Zwischenmenschlichen ist gestochen scharf, ihre Figuren mit all ihren inneren Widersprüchen faszinieren.
Lebensnah, ein oft strapazierter Begriff, fällt einem dazu ein. Er passt perfekt. Denn Mina geht es nicht um den wohligen Schauer beim Lösen eines Rätselkrimis. Sie will genau hinsehen, Geschehnisse sezieren und Bruchlinien in der Gesellschaft erkennbar machen. Und das tut sie auf bestechende Art und Weise.
9 von 10 Punkten
Denise Mina: “Götter und Tiere”, übersetzt von Karen Gerwig, Argument Verlag mit Ariadne, 360 Seiten.
John le Carré und ich. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Vermutlich überhaupt keine Liebe. Aber großer Respekt ist geblieben, vor diesem Ausnahmekönner, der den Spionageroman im Handumdrehen in die Weltliteratur gehoben hat und nun gestorben ist.
Ich habe schon vor sehr langer Zeit sein wohl bekanntestes Buch, das ihm damals den Durchbruch verschaffte, gelesen: “Der Spion, der aus der Kälte kam”. Für viele ist das der besten Spionageroman, der jemals geschrieben wurde. Auf mich hat das Buch allerdings keinen bleibenden und nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Wenn ich an Spionageromane denke, dich mich beeindruckt haben, denke ich sofort an den zweiten Altmeister des politischen Spannungsromans: Frederick Forsyth. “Die Faust Gottes” und “Das Schwarze Manifest” haben mich echt gefesselt. Auch diverse Romane von Jack Higgins habe ich als Teenager verschlungen. Der im deutschsprachigen Raum vollkommen in Vergessenheit geratene Gerald Seymour hat mich so richtig begeistert und berührt. Und später waren es dann Daniel Silva und David Ignatius.
Mit le Carrés Romanen wurde ich lange hingegen nie so richtig warm. Mir war das zu langsam, zu verkopft, zu kompliziert. Was auch immer. Ähnlich geht es mir übrigens mit Graham Greene. Er ist einer jener Autoren, die man eigentlich mögen sollte. Aber ich kann mit ihm bis heute nicht viel anfangen.
Dann habe ich irgendwann “Absolute Freunde” gelesen. Das hat mich auch nicht zu einem Fan gemacht, aber phasenweise hat mich das so richtig gepackt. Tja, und dann habe ich voriges Jahr “Federspiel” gelesen. Mit diesem Spätwerk hat mich der weise alte Mann dann endgültig auf die Reise mitgenommen.
Ich habe noch einmal nachgelesen, was mich damals so begeistert hat: “Sein Interesse gilt ohnehin den kleinen Rädchen im Spionagegetriebe, den offenkundigen Verlierern, die ihr Gewissen bewahrt haben – was wohl auch ein Hauptgrund für ihren beruflichen Abstieg ist.” Da steckt doch eine gute Portion Noir drin.
Als Leser bildet man sich ja ständig weiter. Was man früher mochte, mag man oft gar nicht mehr – und umgekehrt. Und irgendwann werde ich vermutlich auch noch seine Klassiker “Die Libelle” und “Der ewige Gärtner” lesen.
PS: Sehr zu empfehlen ist der TV-Mehrteiler “Der Nachtmanager”.
Chinesische Wissenschaftler entwickeln ein tödliches Virus zur Auslöschung der Feinde Chinas. Sein Name: Wuhan-400. Eh klar, denkt man, der erste Coronavirus-Thriller konnte ja nicht lang auf sich warten lassen. Doch weit gefehlt, Autor Dean Koontz hat diesen Virus bereits vor fast 40 Jahren in seinem Thriller “Die Augen der Finsternis” erfunden, der nun im Ullstein-Verlag neu übersetzt und aufgelegt wurde.
Auch der südafrikanische Krimiautor Deon Meyer hat mit seinem vor zweieinhalb Jahren auf Deutsch erschienenen Endzeit-Thriller “Fever” die aktuelle Pandemie vorweggenommen. Allerdings verläuft sie in seinem Buch viel tödlicher: 95 Prozent der Weltbevölkerung sterben. In dem 700 Seiten dicken Buch überträgt sich ein Coronavirus von einer Fledermaus auf den Menschen und breitet sich in Folge rasend schnell global aus. Zahlreiche Regierungen schließen ihre Grenzen, doch das nützt in dem Thriller nichts mehr. “Fever” ist aber nicht bloß irgendein Weltuntergangsthriller. Spannend liest sich vor allem, wie unterschiedlich die wenigen Überlebenden mit der Situation umgehen: Von kooperativen, demokratischen Modellen bis hin zu mordenden Räuberbanden ist hier alles vertreten.
Zwei aktuelle, solide Seuchenthriller
Tatsächlich gibt es aber auch Thriller, deren erstmaliges Erscheinen rein zufällig mit der aktuellen Krise zusammentrifft. Ebenfalls bei Ullstein ist soeben “Patient Null” von Daniel Kalla erschienen. Als in Genua die Pest ausbricht, begeben sich Experten auf die Suche nach dem Ursprung der Seuche. Kalla spannt einen Bogen zurück ins Jahr 1348. Die Parallelen zur Corona-Realität sind frappierend: Thematisiert wird die Suche nach dem ersten Patienten sowie die prekäre Lage in Spitälern.
In Uwe Laubs “Leben” (Heyne Verlag) – das mir übrigens deutlich besser gefallen hat als sein Vorgänger “Sturm”– wiederum wird eine Pandemie, bei der Menschen plötzlich rasend schnell altern, mit Artensterben und Klimawandel in Verbindung gebracht. Auch das macht nachdenklich.
Auch Sachbücher können fesseln
Bloß stellt sich die Frage, wer in Pandemie-Zeiten tatsächlich Seuchenthriller lesen will? Ist die momentane Realität nicht beängstigend genug? Also wenn schon, warum nicht gleich zum Klassiker aller Klassiker, “Die Pest” von Albert Camus, greifen?
Oder zum Sachbuch? Wer sich mit solider Spannungsliteratur nicht zufrieden geben will, sollte einfach Laura Spinneys “1918. Die Welt im Fieber” (Hanser Verlag) lesen. Sie hat bereits vor zwei Jahren darüber geschrieben, wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. Selten war ein Sachbuch so fesselnd.
Ryan Gattis hat für mich mit “In den Straßen die Wut” den besten Kriminalroman des Jahres 2016 geschrieben. “Safe” klingt für mich ausgesprochen vielversprechend, ich hoffe auf ähnlich außergewöhnliche Lektüre wie einst bei Steve Hamiltons “Der Mann aus dem Safe”. Denn offenbar habe ich ein Faible für Safeknacker 😉
Der Verlag schreibt: Ricky Mendoza, genannt Ghost, ist Panzerknacker, der beste von L.A. Früher war er Gangster, jetzt knackt er für die Polizei die Safes der Banden. Doch Ghost plant einen Coup. Er will Geld abzweigen, sehr viel Geld. Nicht aus Eigennutz – das hätte er vielleicht getan, bevor er in der Krebsklinik Rose kennenlernte. Rose ist lange tot, Ghost wurde geheilt. Doch nun ist der Tumor zurück. Ghost wird sterben. Bis dahin will er den Bösen nehmen und den Armen geben. Ein Dead Man Walking.
Rudy Reyes, genannt Glasses, ist die rechte Hand des Drogenkönigs. Er hat eine solide Verbrecherkarriere hinter sich, aber er hat auch Familie in Mexiko, wo die Kartelle ganze Dörfer abschlachten. Glasses fühlt sich mitschuldig, er will ein neues Leben beginnen. Mit der Polizei arbeitet er seit längerem zusammen; gerade hat er eine Liste mit den Gelddepots der Gangs geliefert. Vielleicht ist auch er ein Dead Man Walking.
André Georgis “Tribunal” fand ich in Ansätzen sehr gelungen. Der Autor vergab dabei aber auch viele Möglichkeiten. Nun, ich habe “Die letzte Terroristin” mittlerweile gelesen – und ich bin begeistert, wie sehr sich Georgi steigern konnte. Bald mehr dazu.
Eine Frau in den Fängen des Terrorismus, unterwegs in einer waghalsigen Mission. Ihr Zielobjekt: einer der meistgehassten Männer der wiedervereinigten Republik. Ihr Gegenspieler: ein unter Druck geratener BKA-Ermittler. In die Enge getrieben steht sie plötzlich vor einer Entscheidung, die nicht nur ihr eigenes Leben verändern wird …
Berlin, 1991: Treuhandchef Hans-Georg Dahlmann muss die Staatsbetriebe der untergegangenen DDR in die Privatwirtschaft überführen und ist der meistgefährdete Mann nach der Wende: Verhasst im Osten, im Konflikt mit westdeutschen und internationalen Unternehmen, potenzielles Zielobjekt der RAF.
BKA-Mann Andreas Kawert ist der jüngsten Generation der Terrorgruppe auf der Spur. Hinweise verdichten sich, dass ein Attentat auf Dahlmann bevorsteht. Eine Frau rückt in den Fokus des Ermittlers. Doch ist er wirklich hinter der Richtigen her? Und wird er es schaffen, das Attentat zu verhindern?
(c) Polar Verlag
Feines kommt auch aus dem Polar-Verlag. “Grant Park” ist definitiv keine Krimikost für Zwischendurch. Interessant diese Verknüpfung zwischen Martin Luther Kings Ermordung und Barack Obamas Angelobung als US-Präsident.
“Grant Park”, der dritte Roman des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Miami-Herald-Kolumnisten Leonard Pitts Jr. spielt an zwei der eindrucksvollsten Schauplätze amerikanischer Geschichte: am Tag von Obamas Wahl zum Präsidenten im Herbst 2008 und beim Streik in Memphis, der 1968 zur Ermordung von Martin Luther King führte. In Malcolm Toussaint, dem gefeierten Kolumnisten der Chicago Post, verbinden sich die beiden Ereignisse. Mit 60 Jahren ist er vollkommen desillusioniert. Seine Frau ist gestorben. Ein Leser hat ihn mit dem N-Wort beschimpft. Ein weiterer schwarzer Teenager wurde von der Polizei erschossen. Es ist Wahltag. Barack Obama kann womöglich die Präsidentschaft gewinnen. Überwältigt von Verzweiflung schleust Toussaint eine Kolumne auf der Titelseite seiner Zeitung an der Chefredaktion vorbei, die mehr Provokation als Kommentar ist. Er schreibt, dass er “müde vom Bullshit der Weißen ist. Genug ist genug ist genug”, was zu seiner Entlassung führt. Am gleichen Tag wird er von weißen Rassisten entführt. An einen Stuhl in einem verlassenen Lagerhaus in Chicago gekettet, hört er die Jubelrufe aus dem Grant Park, wo die Menge auf Obamas Siegesrede wartet, während seine Entführer, die White Resistance Army, planen, das Ereignis zu bombardieren. Martin Luther Kings Tod wird verbunden mit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten. Soll man man sich lieber widersetzen oder auf den langsamen Wandel von Hass und Verzweiflung bauen?
(c) Diogenes
Auf Mick Herrons “Slow Horses” warte ich jetzt schon seit Jahren. Mittlerweile hat sich um die “Slow Horses” eine Serie entwickelt, mit Teil zwei (“Dead Lions”) hat der Autor sogar den begehrten Golden Dagger Award gewonnen hat. Ein Muss.
Slough House, das ist der Ort, an den Agenten des Geheimdiensts MI5 in London verdammt werden, deren Karrieren frühzeitig gescheitert sind. Vielleicht haben diese ›Slow Horses‹ einen Auftrag komplett vermasselt, kamen einem ehrgeizigen Kollegen ins Gehege, oder sie hingen einfach zu sehr an der Flasche, was in diesem Gewerbe nicht unüblich ist. Außer dass sie Einzelgänger sind, haben sie noch eins gemeinsam: Sie alle wollen wieder zurück in den aktiven Dienst in Regent’s Park, und dafür würden sie absolut alles tun: sogar mit den anderen ›Slow Horses‹ zusammenzuarbeiten.
River Cartwright ist ein ausgemusterter MI5-Agent, und er ist es leid, nur noch Müllsäcke zu durchsuchen und abgehörte Telefonate zu transkribieren. Er wittert seine Chance, als ein pakistanischer Jugendlicher entführt wird und live im Netz enthauptet werden soll. Doch ist das Opfer der, der er zu sein vorgibt? Und wer steckt hinter den Entführern? Die Uhr tickt, und jeder der Beteiligten hat seine eigene Agenda. Auch Rivers Chef.
(c) Suhrkamp
David Whish-Wilsons “Die Ratten von Perth” war für mich einer der besten Kriminalromane des Vorjahrs – ich habe sogar 10 von 10 Punkten vergeben. Nun folgt mit “Die Gruben von Perth” Teil zwei dieser australischen Trilogie.
Perth, 1979. Der Goldpreis schießt in die Höhe, der Bergbau spült Unmassen von Geld nach Western Australia. Frank Swann, der aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist, schlägt sich als Privatdetektiv durch. Er soll den Selbstmord eines renommierten Geologen untersuchen und gerät in einen besonders dreisten Schwindel mit Schürfrechten, in den so ziemlich alle verwickelt sind: die Mafia, Biker Gangs, die für jeden arbeiten, der gut zahlen, die große Politik und das Big Business sowieso.
Gleichzeitig führt Swann seinen Privatkrieg gegen eine total korrupte Polizei weiter. Seine Gegner sind noch lange nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern formieren sich in verschiedenen Koalitionen immer wieder neu. Allerdings sind auch Swanns Methoden inzwischen mindestens ebenso robust wie die seiner Feinde …
Die neue Krimi-Bestenliste hat mich auf den ersten Blick diesmal ein wenig enttäuscht. Was sich da finden lässt, fällt großteils nur bei sehr großzügiger Auslegung in die Kategorie Krimi. Damit habe ich grundsätzlich kein Problem, denn ich bin ein Suchender, der gern abseits der ausgetretenen Krimipfade wandelt. Und natürlich gibt mir die Liste auch diesmal Hilfe. Auf “Sein blutiges Projekt” oder “Der Block” wäre ich sonst wohl nie gestoßen.
Aber ein wenig beschleicht mich die Befürchtung, dass ein Krimi künftig möglichst wenig Krimi sein soll, um es auf die Liste zu schaffen. Das fände ich schade. Ein guter Krimi ohne eindeutige politische Botschaften oder literarische Ansprüche? Das scheint es momentan offenbar nicht zu geben, zumindest wenn man der Krimi-Bestenliste glaubt. Ich vermute, dass jedes Buch auf der Liste einzeln betrachtet durchaus herausragend ist, aber kurzzeitig habe ich mir schon gedacht: Wo bin ich hier jetzt eigentlich gelandet?
Offenbar bin ich doch ein konservativerer Krimileser, als ich bisher dachte. Klassische Krimis sind diesmal in der Minderzahl, darum will ich extra darauf hinweisen: “Gefrorener Schrei”, “Sea Detective – Ein Grab in den Wellen”, “Die Straße ins Dunkel” und “Moorbruch”. Das letztgenannte Buch habe ich schon gelesen und kann es jedem ans Herz legen.
Die Liste im Überblick:
1. Denis Johnson: Die lachenden Ungeheuer (-)
2. Jerome Charyn: Winterwarnung (2)
3. Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt (-)
4. Jérôme Leroy: Der Block (-)
5. Tana French: Gefrorener Schrei (1)
6. Mark Douglas-Home: Sea Detective – Ein Grab in den Wellen (9)
7. Max Annas: Illegal (-)
8. Paul Mendelson: Die Straße ins Dunkel (3)
9. Peter May: Moorbruch (-)
10. Federico Axat: Mysterium (-)
Die ersten Neuerscheinungen des Krimijahres 2016 lassen bereits zwei Schlüsse zu: Erstens, auch das neue Jahr wird reich an außergewöhnlichen Kriminalromanen abseits des Mainstreams sein. Zweitens, ein gutes Händchen wird nötig sein, um bei der Masse an Neuerscheinungen auch die rund “40 richtigen” Krimis zu erwischen 😉 Mehr gehen sich bei mir pro Jahr definitiv nicht aus.
(c) Rowohlt Polaris
Vielleicht ist er vermessen oder eine Fehleinschätzung. Aber “In den Straßen die Wut” (ab 22. Jänner im Handel) von Ryan Gattis könnte bereits ein Anwärter auf eine Topplatzierung der besten Krimis des Jahres 2016 sein. Hier klingt bloß die reißerische Bewerbung “Ein Roman wie ein Tarantino-Film” abschreckend. Ansonsten scheinen mir hier alle Zutaten für einen guten Kriminalroman vorzuliegen. Spannendes Setting, realistische Darstellung, geschrieben von einem Mann, der durch Recherche und Glück Insiderwissen erlangte.
Der Verlag schreibt: Sechs Tage im Jahr 1992. Polizisten misshandeln einen schwarzen Bürger und Los Angeles explodiert. Plünderungen, überall brennt es; ein Bürgerkrieg mitten im Herzen der westlichen Welt. Was passiert, wenn die Polizei eine Stadt den Armeen der Gangs überlässt? Rechnungen werden beglichen, noch und noch. Davon erzählt dieser ungeheuerliche Roman. Am Anfang ein unmenschlicher Mord: Wir erleben ihn aus der Sicht des Opfers. Dann kommen andere zu Wort: skrupellose und weniger skrupellose Gangster, rassistische Polizisten, Krankenschwestern, Junkies, jugendliche Mitläufer. Und es entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der der Stärkere den Schwächeren frisst und die sich im Ausnahmezustand gänzlich enthüllt.
(c) Blanvalet
Nicht viel weniger vielversprechend klingt der Thriller “Der Schwede” (18. Jänner) von Robert Karjel. Das Buch wurde in elf Sprachen übersetzt und 20th Century Fox plant bereits eine TV-Serie. Scheinbar dürfte es sich auch um den Beginn einer Serie handeln. Vom 11. September 2001 bis hin zur Tsunami-Katastrophe werden hier tragische Schauplätze der Weltgeschichte verworben. Jetzt muss es halt auch noch halten, was es verspricht.
Der schwedische Geheimagent Ernst Grip wird nach New York gerufen, wo er vom FBI einen ungewöhnlichen Auftrag erhält: Er soll eine geheime Basis im Indischen Ozean aufsuchen, um einen Gefangenen zu verhören. Doch dieser spricht kein Wort – nicht einmal Folter kann ihn zu einer Aussage bewegen. Das Einzige, was das FBI über den Unbekannten weiß, ist, dass er Schwede zu sein scheint. Grip muss all sein Können einsetzen, um das Vertrauen des schweigenden Mannes zu gewinnen. Doch als er schließlich dessen Geheimnis erfährt, gerät Grip selbst ins Kreuzfeuer der internationalen Geheimdienste.
(c) Blanvalet
Und noch ein Krimi aus dem Haus Blanvalet. Wer meine Vorliebe für dystopische Future-Noir-Thriller kennt, wird verstehen, warum ich mir bei “unfehlbar” von Bruce McCabe ein gutes Stück Spannungsliteratur erhoffe.
San Francisco in der nahen Zukunft: Im Silicon Valley hat eine Technologiefirma Roboter entwickelt, die sich von echten Menschen kaum unterscheiden und ein scheinbar normales Leben führen. Eine wachsende Zahl religiöser und politischer Gruppen verteufelt diesen Fortschritt mit zunehmend radikalen Parolen. Als ein Bombenanschlag die Stadt erschüttert, wird Daniel Madsen beauftragt, den Attentäter zu finden. Er gehört einer kleinen Eliteeinheit des FBI an, die mit neuesten Technologien ermittelt. Madsen bleibt nicht viel Zeit, denn der Täter kann jederzeit erneut zuschlagen. Und er muss abtauchen in eine düstere Welt aus Gewalt, Sex und Korruption.
(c) Polar
Bei meinem aktuellen Lieblingsverlag Polar erhalte ich die Chance, ein Versäumnis gutzumachen. Ich habe “Dead Money”, den Auftakt von Ray Banks Anfang Jänner 2015 verpasst. Nun ist Anfang Jänner “Saturday’s Child” erschienen. Und: Der Autor ist Schotte – was soll ich da regelmäßigen Lesern meines Blogs noch länger erklären 😉
Cal Innes, eben noch im Gefängnis, versucht sich auf freiem Fuß als Privatermittler ohne Lizenz. Einer seiner ersten Klienten ist ausgerechnet der lokale „Gang-Lord“ Tiernan, der ihn bittet, einen abtrünnigen Rogue-Casino-Dealer aufzuspüren, nachdem dieser mit einem Batzen Geld durchgebrannt ist. Was Innes ein Katz-und-Maus-Spiel mit Tiernans psychotischem, Pillen fressenden Sohn Mo einbringt, der sich ihm an die Fersen heftet, als Innes‘ Nachforschungen ihn von Manchester nach Newcastle führen. Mit Callum Innes, Maurice Tiernan und Mo sind Ray Banks Charaktere gelungen, die in der besten Tradition des British Noir stehen. In einer Welt voller Sozialwohnungen, Pubs und schmuddeliger Casinos, wo jeder nur darauf aus ist, sich über Wasser zu halten. Das spannungsgeladene erste Buch der vierteiligen Reihe um den heruntergekommenen Privatermittler Cal Innes.
(c) Tropen
“Der König der Favelas” von Misha Glenny ist eigentlich ein Sachbuch. Aber hier wird die Geschichte eines brasilianischen Drogenbosses erzählt, die es mit der von “El Chapo” aufnehmen kann. Wer Don Winslows “Das Kartell” mochte, wird wohl auch hier nicht vorbeikommen.
Weitläufig und unkontrollierbar sind die Wege der Korruption, weitläufig und unkontrollierbar auch die Favelas von Rio. Genau hier entfaltet sich die tragische Lebensgeschichte eines der berüchtigtsten Drogenbosse des Landes. Im Grunde widerwillig, aber doch auch zielstrebig steigt Nem durch Organisationstalent und Loyalität in der Hierarchie auf, bis er schließlich selbst das Ruder übernimmt und sich an die Spitze einer der größten Verbrecherorganisationen Brasiliens setzt, der Amigos dos Amigos. In seinem glänzend recherchierten und aufregend geschriebenen Buch öffnet uns Misha Glenny die Augen für das soziale Drama Brasiliens. Die Ambivalenz des Menschseins wurde selten so greifbar und packend erzählt.