Willie Sutton (1901-1980) war einer der beliebtesten Bankräuber aller Zeiten. Er galt als eine Art Gentleman-Verbrecher, der dutzende Banken ausraubte, dabei keinen einzigen Schuss abfeuerte und mehr als die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbrachte. J.R. Moehringer hat sich dieser faszinierenden Legende gewidmet und mit “Knapp am Herz vorbei” vorbei ein außergewöhnliches Porträt geschrieben, das aber auch reine Fiktion sein könnte. Das gibt Moehringer in einer Anmerkung auch zu: “Dieses Buch ist meine Vermutung. Und zugleich mein Wunsch.” Fakten und Fiktion sind nicht voneinander zu trennen.
Aber wohl auch das macht den Reiz dieser einfühlsamen Geschichte aus. Letztlich ist es nicht so wichtig, ob all das so passiert ist oder nicht – Moehringer hat etwas geschafft, das nur selten gelingt. Er hat nicht nur einen spannenden Roman geschrieben, sondern ein Stück große Literatur. “Knapp am Herz vorbei” ist ein Stück großer Erzählkunst. Daher sei es Moehringer auch verziehen, das er dem Mythos des Bankräubers phasenweise selbst erliegt. Doch er schreckt nicht davor zurück, das in einer Szene zu thematisieren: “Du hast gesagt, du hättest nie jemanden verletzt, worauf du sehr stolz bist, aber sieh dir die Leute an, die dir über den Weg gelaufen sind. Wie ist es ihnen ergangen? Sie sind im Gefängnis, blind oder tot.” Und: “Ein sympathischer Verbrecher kann tödlicher sein als ein zähnefletschender Axtmörder, weil die Leute nicht die nötigen Vorsichtsmaßnahmen treffen.”
“Der ganze F.-Scott-Fitzgerald-Schwachsinn”
Willie Sutton muss vor dem Hintergrund seiner Zeit verstanden werden: Der 1920er- und 1930er-Jahre, also den Jahren vor und während der Großen Depression – obwohl diese gar nicht so leicht zu trennen sein dürften, wie es einmal heißt: “Alle glauben, dass die zwanziger Jahre golden waren. Dass die Leute über Nacht reich wurden, der ganze F.-Scott-Fitzgerald-Schwachsinn, aber lasst euch von Willie sagen, das Jahrzehnt hat mit einer Depression angefangen und mit einer Depression aufgehört, und dazwischen gab es viele nervenaufreibende Tage.”
Suttons Motivation beschreibt Moehringer einmal so: “Ich wusste, dass es falsch war. Aber es war auch falsch, dass ich hungrig war.” Wie dem auch sei – der Autor hat ein Buch voll einprägsamer Charaktere und lebenskluger Zitate rund um “Willie The Actor” geschrieben. Diese Spitznamen erhielt er, weil er sich bei seinen Überfällen mit Vorliebe verkleidete. “Der Spiegel” beschrieb den Bankräuber bereits 1952 als “Asphalt-Robin-Hood”. Denn die eigentlichen Bösen hat Moehringer längst ausgemacht, wie er in einem Interview mit dem Fischer-Verlag zugibt: “Ich arbeitete gerade an einem anderen Projekt, als mich 2008 der Höhepunkt der Bankenkrise so unglaublich wütend auf die Banker machte, die Riesensummen kassierten, aber das Geld anderer zum Fenster hinauswarfen. Für mich sind Banker die Architekten der Apokalypse. Nur einer konnte meine Wut auf die Banken übertreffen: ein Bankräuber.”
Das Willie-Sutton-Gesetz
Der echte Willie Sutton wurde übrigens auch als Ausbrecher-König bekannt. Ihm gelang mehrmals die Flucht aus dem Gefängnis – einmal budelte er sogar mit Komplizen einen 30 Meter langen Tunnel. Ein Spruch wird ihm hartnäckig zugeordnet: “Weil dort das Geld ist”, soll er begründet haben, warum er Banken überfallen habe. In seinen Memoiren wies er das aber zurück. Dies sei wohl die Erfindung irgendeines Journalisten gewesen. Warum er Banken ausgeraubt habe? Die Antwort passt nicht ganz in das idealsierte Bild von Sutton: “Weil ich es genossen habe. Ich habe es geliebt.”
Dennoch wird auf Management-Schulen aufgrund des falschen Zitats bis heute die sogenannte Willie-Sutton-Regel gelehrt: Diese beinhaltet die Maxime, dass es absolut logisch sei, sich auf die Bereiche zu konzentrieren, die den größten Profit abwerfen. Manager sollen der Regel zufolge ihre Bemühungen auf jene Aktivitäten lenken, die den größten Ertrag bringen.
Wenn sich schon alles darum dreht, diesmal ein kurzes monetäres Fazit: Jede Seite dieses Buches ist ihr Geld wert.
J.R. Moehringer: “Knapp am Herz vorbei”, übersetzt von Brigitte Jakobeit, S. Fischer, 444 Seiten.
9 von 10 Punkten