Monthly Archives: October 2017

Antonin Varenne: Die Treibjagd

(c) Penguin

Antonin Varenne erzählt in seinem Krimi “Die Treibjagd” nüchtern eine aus der Zeit gefallene Geschichte mit einem einsamen Helden – und viel, viel Wald. Man könnte es auch einen Western in Frankreich nennen. Statt Indianern ziehen Sinti, die im Ort ebenso angefeindet werden wie Umweltschützer, durch die Landschaft. Das Buch erinnert unweigerlich an US-Krimiautor James Lee Burke, der wie kaum ein anderer Natur und Wildnis stets viel Raum in seinen Geschichten einräumt. Wenig verwunderlich spielt die eigentliche Hauptrolle der Schauplatz: R., ein Ort im Zentralmassiv.

Seit Generationen kämpfen dort zwei einflussreiche Familien um die Herrschaft. Über die Jahre haben sie alle kleinen Bauernhöfe aufgekauft, die Gegend mehr oder weniger zweigeteilt. Bloß Revierjäger Remi Parrot, der seit einem Unfall entstellt ist, lässt sich von keiner Seite vereinnahmen. Er ist der einsame Held, wie man ihn eben aus amerikanischen Western kennt – mit ganz eigenem Moralkodex. Einfach ist für Parrot nichts in seinem Leben, fühlt er sich zudem auch zu Michèle Messenet, der Angehörigen eines der beiden Clans, hingezogen. Als Förster Philippe plötzlich verschwindet und eine aufwendige Suchaktion beginnt, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Remi begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit.

Gleichzeitig seziert Varenne erbarmungslos die Strukturen kleinstädtischen Lebens, ohne dieses zu verdammen. Mit viel Feingefühl für seine Figuren und einem scharfen Blick für Details liefert er nicht weniger als einen der besten Kriminalromane der Saison. Darum vergebe ich endlich wieder einmal die vollen Punkte!

Varenne hat einfach meinen Nerv getroffen, er hat mich von Beginn an auf die Reise mitgenommen. Beispielhaft kann man das erste Kapitel hernehmen, in dem der Autor eine eigene Geschichte für sich erzählt: Vom Niedergang der Stadt R., geschildert von  der oben erwähnten Michèle. Als sie geboren wurde, gab es noch die Philips-Fabrik: “Es gab hier genauso viele Gründe, hier zu leben, wie anderswo.” Als junge Erwachsene verließ sie die Stadt und nach der Rückkehr ist alles anders:

“Die Hälfte der Häuser steht leer, alles ist heruntergekommen, die Geschäfte in der Hauptstraße wechseln jedes Jahr den Besitzer, und die Hälfte der Läden steht zum Verkauf. Die Bevölkerung muss die älteste von ganz Europa sein, und die Jungen versammeln sich zum Komasaufen. Sie raufen nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf. Die kleinsten Höfe haben hundertfünfzigtausend Hektar, und meine Familie besitzt den größten von allen.”

Mit diesen vier Sätzen beschreibt er die Ausgangslage der Geschichte perfekt. Sie geben die Stimmung des Buches sehr gut wieder. Es ist unglaublich wie vielschichtig Varenne auf den ersten sieben Seiten erzählt. Großartig. Der Vorgänger “Die sieben Leben des Arthur Bowman” wird wohl in Kürze in mein Regal wandern.

10 von 10 Punkten

Antonin Varenne: “Die Treibjagd”, übersetzt von Susanne Röckel, 302 Seiten, Penguin Verlag.

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Krimi-Bestenliste im Oktober: Ein Abgleich

(c) Suhrkamp Nova

Simone Buchholz hat ihren ersten Platz auf der Krimi-Bestenliste im Oktober verteidigt. Ich habe “Beton Rouge” (mir gefallen übrigens Titel und Cover sehr, sehr gut) am Wochenende fertig gelesen. Der Platz auf der Liste ist absolut gerechtfertigt, wobei mir der Fall eine Spur zu einfach gelöst wurde. Allerdings steht das bei der ungewöhnlichen Staatsanwältin Chastity Riley ohnehin nie im Vordergrund. Buchholz hat eine ganz eigene Welt erschaffen.

Über Sven Heucherts “Dunkels Gesetz” habe ich vor Kurzem hier geschrieben, ebenso wie über Ottessa Moshfeghs “Eileen”.

“Der Sympathisant” klingt sehr, sehr spannend. Aber ich fürchte, das Buch ist mir zu dick. Da lese ich doch eher “Die Ratten von Perth” (soeben bei mir am Stapel gelandet) und noch irgendeinen anderen dünneren Kriminalroman.

Tja, von Ditfurth will ich auch schon länger wieder einmal etwas lesen. Über Ani muss man ohnehin nicht sprechen – das wäre eigentlich Pflicht, wenn es nicht so viel anderes zu entdecken gäbe…

Die Liste im Überblick:

1. Simone Buchholz: Beton Rouge (1)
2. Friedrich Ani: Ermordung des Glücks (-)
3. Lisa Sandlin: Ein Job für Delpha (7)
4. Sven Heuchert: Dunkels Gesetz (5)
5. Viet Thanh Nguyen: Der Sympathisant (-)
6. Ottessa Moshfegh: Eileen (2)
7. Robert Hültner: Lazare und der tote Mann am Strand (8)
8. Christian v. Ditfurth: Giftflut (10)
9. David Whish-Wilson: Die Ratten von Perth (-)
10. Xiao Bai: Die Verschwörung von Shanghai (-)

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Philippe Pujol: Die Erschaffung des Monsters

(c) Hanser Berlin

Frankreich-Schwerpunkt bei der Frankfurter Buchmesse. Auch ich habe daher vier Bücher gelesen, die sich mit der dunklen, abgründigen Seite des Landes auseinandersetzen. Den Auftakt mache ich hier mit einem Sachbuch, das sich aber großteils wie ein Kriminalroman liest.

“Marseille ist eine schillernde Stadt, ein Knäuel von Fantasien und Lügen, Trugbildern und Täuschungen”. Das steht im Nachwort von “Total Cheops”, dem Auftakt der Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo. Nach der Lektüre von Philippe Pujols Sachbuch  “Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille” ist von einer schillernden Stadt nicht mehr viel zu erkennen. Pujol porträtiert sie als kriminell und korrupt. Platz für Fantasie bleibt da nicht mehr.

Pujol zeichnet kein schönes Bild der Stadt. “Wo Menschen sind, stinkt es nach Scheiße”, heißt es gleich auf der ersten Seite. Kleinkriminalität ist in der perspektivlosen Welt einiger Stadtviertel keine Option, sondern die einzige Möglichkeit, zu überleben. Pujol gewährt hier einen erschreckenden, aber gleichzeitig faszinierenden Einblick in seine Heimatstadt. Denn arm zu sein, bedeutet nicht, dumm zu sein. So sehen sich alle Bandenmitglieder ähnlich, um die Kameras zu täuschen, zudem findet ständig ein Kleidertausch statt, um die Polizei zu verwirren.

Gewinnerlose des Pferdewettanbieters PMU wiederum eignen sich bestens zur Geldwäsche: Ein Spieler mit einem Gewinnlos über 1000 Euro kommt zu einem Kerl, der „Gewinnlose! Ich kaufe und verkaufe“ schreit. Der Gewinner erhält dafür 1100 Euro. Kurz darauf kommt jemand, der Geld aus einem illegalen Geschäft hat, und kauft das Gewinnlos für 1200 Euro, das er dann offiziell einlöst. Alle profitieren: Gewinner und Zwischenhändler haben um 100 Euro mehr, der Straftäter hat sein Geld gewaschen.

Pujol beschränkt sich aber nicht auf diesen “Mikrokosmos voller kleiner Tricksereien”, sondern zeigt, wie Klientelismus und Korruption in der Stadt, im Département sowie in der Region funktionieren. Im Zentrum steht der seit mehr als zwanzig Jahren amtierende Bürgermeister: Jean-Claude Gaudin. In diesem “System Gaudin” profitieren, ähnlich dem geschilderten Beispiel der Gewinnlose, alle. Das schließt auch Gangster und den rechtspopulistischen Front National nicht aus. Als ein Schlüsselelement bezeichnet der Autor die Erpressung mit Baugenehmigungen.

Die Wut des Autors ist zwischen den Zeilen spürbar, auf jeder einzelnen Seite. Er versucht dabei aber immer fair zu bleiben, sein Zorn richtet sich nicht gegen die Menschen, die in prekären Verhältnissen vegetieren müssen, sondern vor allem gegen die politischen Verantwortlichen und jene, die mit dem Elend Geschäfte machen.

Und ja: Es wäre eine gute Gelegenheit, die Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo wieder zur Hand zu nehmen.

8 von 10 Punkten

Philippe Pujol: “Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille”,  übersetzt von Oliver Ilan Schulz und Till Bardoux, Hanser Berlin, 287 Seiten.

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Das Ende des Polar Verlags – und was es bedeutet

(c) Polar Verlag

Erst wenn manche Dinge nicht mehr da sind, merkt man, wie sehr man sie geschätzt hat. Für wie selbstverständlich man sie genommen hat. Das ist nun auch beim Polar Verlag, der Insolvenz angemeldet hat, der Fall. Die umstrittene Crowdfunding-Aktion, über die etwa Martin Compart kritisch schreibt, hat also auch nicht gefruchtet. Schade, dieser Verlag war innerhalb von vier Jahren zu einem Fixpunkt für Krimileser geworden, die nicht nur Mainstream wollen. Dass das finanziell schwer zu stemmen ist, hat ja zuletzt auch die sehr kurze Existenz des ambitionierten Metrolit-Verlags gezeigt. Aber man muss wohl auch als Leser akzeptieren, dass das Bestehen reiner, sehr spezieller Krimi-Verlage neben den global tätigen Branchenriesen kaum möglich ist. Offenbar gibt es den Markt dafür einfach nicht, so ehrlich muss man wohl sein.

Das ist traurig, aber passionierte Krimileser haben ohnehin ein geschärftes Auge für Realität. So funktioniert die Welt nun mal, auch wenn es einem nicht passt. Kein Grund zum Jammern. Denn es gibt sie sehr wohl noch, die Klein(st)verlage – etwa Ariadne, Pulp Master und Pendragon – die seit vielen Jahren, teilweise Jahrzehnten, außergewöhnliche Stücke (Kriminal-)Literatur publizieren.

Was kann man also als Leser tun?

Erstens findet sich gute Crime Fiction zum Glück natürlich nicht nur in diesen Kleinverlagen. Auch die “bösen” globalen Verlage, die ihr Geld oft mit anderen populären Büchern machen, haben sehr gute Crime Fiction in ihrem Programm.

(c) Polar

Zweitens: Amerikaner, Briten und Australier können die meisten Leser ohnehin problemlos im Original lesen. Und ja, das kann auch das Gute an dieser Pleite sein: Nehmen wir doch wieder mehr Bücher im Original zur Hand. Ich denke da gleich einmal an Bill Beverly (“Dodgers”) und Reed Farrel Coleman.

Drittens blendet das zwar einen großen Teil der Welt aus – dafür gibt es dann aber etwa den Unionsverlag, der sich guter Kriminalliteratur auf ungewöhnlichen Schauplätzen angenommen hat. Gary Victor aus Haiti wiederum wird vom kleinen Litradukt-Verlag herausgegeben. Qualität findet doch oft ihren Platz. Es besteht also durchaus Hoffnung, dass Vielfalt bestehen bleibt. Und sehr gute französische Krimis sind momentan – hoffentlich ist das nicht nur dem Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse geschuldet – auch auf dem Markt.

Der Polar Verlag hat es für Crime Fiction Fans sehr gemütlich gemacht. Da wusste man, dass jede Neuerscheinung potenziell von Interesse sein wird. Dieser Luxus fällt nun wieder weg. Schön, dass du da warst, Polar Verlag – deine Bücher bleiben ohnehin bestehen. Aber wir Crime Fiction-Leser lassen uns das Lesen jetzt nicht verderben.

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