Lange ist es her, seit ich hier geschrieben habe. Ich will keine Prognose wagen, wie es mit crimenoir weitergeht, aber wenn ich schon zurückkehre, dann gleich mit einem Buch, das mich so richtig auf Lesereise mitgenommen hat. Also einen Kriminalroman, dem ich 10 von 10 Punkten gebe: Megan Abbotts abgründiger Krimi “Aus der Balance” entführt in die Welt des Balletts, auf die dunkle Seite von Rosa, wenn man so will. Eindringlich schreibt sie von geschundenen Körpern und Seelen.
Seit Abbotts viel gepriesener Kriminalroman “Das Ende der Unschuld” vor einem Jahrzehnt erschienen ist, ist es um die US-Autorin still geworden. Zumindest im deutschsprachigen Raum. Daran ändert nun ausgerechnet der Kleinstverlag Pulp Master etwas, dessen Bücher bislang immer für eine klassische Männerwelt standen, wie Thekla Dannenberg im Nachwort schreibt: “abgründig, dunkel und voller Härte”.
Pulp Master vollzieht seinen Wandel nun noch dazu mit dem Ballettroman. Aber Vorsicht! Man sollte sich von der schönen zartrosa Welt von Tüll und Tutu nicht täuschen lassen. “Das Ballett war reich an düsteren Märchen, und wie eine Tänzerin ihre Spitzenschuhe vorbereitete, war ein Ritual, so mysteriös und intim wie Selbstbefriedigung”, heißt es an einer Stelle. Ohne Ehrgeiz und Ellbogen gibt es im Ballett jedenfalls keine Erfolge.
Abbotts abgründige Geschichte über die Schwestern Dara und Marie, die seit dem Tod ihrer Mutter eine Ballettschule betreiben, legt zudem gekonnt offen, wozu die vielen nicht gesagten Dinge in Beziehungen führen können. Als plötzlich ein Mann in Maries Leben tritt, gerät das Beziehungsdreieck zwischen den Schwestern und Daras Ehemann, Charlie, ins Wanken. Charlie war einst von Daras und Maries Mutter aufgenommen worden und hatte jahrelang wie ein Geschwisterteil im Haus gelebt, ehe aus ihm und Dara ein Paar wurde. Das Unheil, man spürt es von Seite zu Seite, nimmt seinen Lauf.
Es wäre nicht verwunderlich, würde sich der eine oder andere Großverlag nach der Lektüre fragen, warum er dieses Buch nicht in sein Programm genommen hat.
10 von 10 Punkten
Megan Abbott: “Aus der Balance”, übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Mülle, Pulp-Master-Verlag, 416 Seiten.
Sehr still ist es geworden auf diesem Blog. Keine besonderen Ereignisse waren dafür verantwortlich. Ich bin auch angesichts der pandemischen Situation und der weltpolitischen Lage nicht in Depression verfallen. Weiterhin lese ich begeistert Kriminalromane, aber über diese hier zu schreiben, hat mir einfach die Muse gefehlt. Mag sein, dass ich hier nur mehr in größeren Abständen meine Eindrücke niederschreibe, aber ganz verstummen mag ich noch nicht. Es gibt jedenfalls kaum ein passenderes Buch als “Das Dunkle bleibt”, um zurückzukehren. Die anbetungswürdigen schottischen Krimigrößen Ian Rankin und William McIlvanney vereint – ja, wo gibt es denn so etwas?
Dass lebende Autoren das Werk verstorbener Krimischriftsteller- und schriftstellerinnen fortsetzen, ist keine Seltenheit. Sophie Hannah etwa hat zahlreiche Agatha-Christie-Romane verfasst, auch Ian Flemings James Bond trinkt weiter Martinis und Robert Ludlums Jason Bourne sieht sich noch immer mit unglaublichen Verschwörungen konfrontiert. Die Serie rund um Stieg Larssons widerspenstige Hackerin Lisbeth Salander, die David Lagercrantz nach dem Tod des schwedischen Autors fortgesetzt hat, wird ab nächstem Jahr von Karin Smirnoff literarisch wiedererweckt.
Seltener kommt es vor, dass unvollendete Manuskripte von Kollegen fertig geschrieben werden. Dies war etwa bei Raymond Chandlers „Einsame Klasse“ der Fall, das Robert B. Parker – selbst namhafter Krimiautor und bekannt für seine Figur des Privatdetektivs Spenser (der nach Parkers Tod dank Ace Atkins ebenfalls weiterermitteln durfte) – zu einem Ende brachte. Oder nun bei William McIlvanneys „Das Dunkle bleibt“, das niemand Geringerer als sein schottischer Landsmann Ian Rankin vollendet hat, dessen Ermittler John Rebus (zb. “Das Souvenir des Mörders”, “Mädchengrab”) Kultstatus genießt.
Fast vergessene Laidlaw-Trilogie
Der im Glasgow des Jahres 1972 angesiedelte Kriminalroman ist ein Prequel zu McIlvanneys fast vergessener Laidlaw-Trilogie (“Laidlaw”, “Die Suche nach Tony Veitch”, “Fremde Treue”) die unter Kennern hoch angesehen ist. Für seinen Nachfahren Rankin waren es diese drei Bücher, die ihn überhaupt zum Schreiben brachten. „Da war dieser literarische Schriftsteller, der sich dem urbanen, zeitgenössischen Krimi zugewandt hatte und zeigte, dass das Genre große moralische und soziale Fragen angehen konnte.“ Ohne ihn wäre er wohl kein Krimiautor geworden, so Rankin. Allein, dass nun ausgerechnet ihm die Ehre zufiel, das Unvollendete zu vollenden, macht „Das Dunkle bleibt“ besonders. McIlvanneys Witwe zeigte sich jedenfalls zufrieden: Als sie das Buch gelesen habe, habe es sich angefühlt, als wäre ihr Mann bei ihr im Zimmer gewesen.
Worum es darin geht? Bobby Carter, Anwalt des Unterweltbosses Cam Colvin, ist ermordet worden. Hinter der Tat werden die Konkurrenten John Rhodes und Matt Mason vermutet. Ein Krieg der rivalisierenden Gangs wird befürchtet. Doch Jack Laidlaw, der Neue bei der Glasgow Crime Squad, hat Zweifel. Laidlaw ist ein unangepasster Einzelgänger, ein Störenfried im bürokratischen Polizeiapparat. Das muss auch sein Kollege Bob Lilley rasch feststellen, der später über Laidlaw sagen wird: „Er ist ein Unikat in einer Welt der Massenproduktion. Kein Polizist, der zufällig auch Mensch ist. Er ist ein Mensch, der zufällig auch Polizist ist, und die Bürde schleppt er überall mit sich herum.“ Allerdings eilt ihm der Ruf voraus, einen sechsten Sinn dafür zu haben, was auf der Straße geschieht.
“Das Gesetz hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun”
Entstanden ist ein glaubwürdiges, lakonisches Stück Kriminalliteratur. Laidlaw ist kein Held, ganz im Gegenteil. Er ist ein mitunter unangenehmer Zeitgenosse, der seine Familie vernachlässigt. Es ist so, als trage er die dunkle Seite Glasgows ständig mit sich herum. Versuche von Laidlaws Frau, eine Verbindung zur Familie seines neuen Kollegen Lilley aufzubauen, sind ein offenkundiger Hilferuf. Ein gemeinsames Abendessen der Paare Laidlaw und Lilley offenbart das Schlachtfeld Ehe im Hause Laidlaw.
Die hohe Kunst Rankins liegt darin, dass man sich bei der Lektüre des Buchs nicht mit der Frage beschäftigen muss, welcher der beiden Autoren denn nun welchen Teil geschrieben hat. Sowohl die beiden Schriftsteller als auch ihre Figuren haben einen ähnlich abgeklärten Blick auf die Dinge, der sich auch in folgendem Zitat perfekt zusammenfassen lässt: „Das Gesetz hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Das ist ein System, das wir installiert haben, weil’s keine Gerechtigkeit gibt.“
Fast würde man sich wünschen, dass Rankin neben seiner Rebus-Reihe ab und zu auch einen Laidlaw-Krimi einstreuen würde. Andererseits ist es aber vielleicht auch einfach gut, die Dinge würdig zu einem Abschluss zu bringen.
Aus Prinzip vergebe ich:
10 von 10 Punkten
William McIlvanney/Ian Rankin: „Das Dunkle bleibt“, übersetzt von Conny Lösch, Antje Kunstmann Verlag, 286 Seiten.
Ich habe vor einigen Jahren Heinrich Steinfests “Cheng. Der erste Fall” gelesen. Meine Begeisterung hat sich damals in Grenzen gehalten. Ich habe “Die Möbel des Teufels” also mit einer gewissen Skepsis zu lesen begonnen, doch schon nach wenigen Seiten hat mich diese außergewöhnliche Geschichte in ihren Bann gezogen. Grandios!
Vielleicht ist das Faszinosum für Nicht-Österreicher nicht ganz nachvollziehbar. Aber der 1. August 1976 hat sich so tief in das kollektive Gedächtnis der Österreicher eingebrannt wie wohl kaum ein anderer Tag der vergangenen 50 Jahre. Damals stürzte in Wien die Reichsbrücke ein, ehe Stunden später Formel-1-Star Niki Lauda nur knapp seinen Feuerunfall am Nürburgring überlebte.
Auch in Leo Pragers Leben bedeutete dieser Tag eine Zäsur. Er verließ das Land, um erst 44 Jahre später, nach der Ermordung seiner Schwester Eva, einer Parlamentsstenografin, wieder in die Heimat zurückzukehren. Es wäre kein Kriminalroman, würde sich nicht vieles um die Frage drehen, warum die Frau getötet wurde.
Doch Heinrich Steinfests “Die Möbel des Teufels” ist noch viel mehr. Der Autor erzählt eine wunderbar absurde und gleichzeitig doch realistische Geschichte über so viele Dinge: wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse, die aktuelle Pandemie (ohne dass es nerven würde), Verschwörungstheorien sowie die Liebe. Und das alles in einem ganz unvergleichlichen lockeren und pointierten Ton, der das Lesen auf jeder Seite zu einem Genuss macht.
Eigentlich ist es bereits der sechste Band rund um Detektiv Markus Cheng, der allerdings mittlerweile die Rolle mit seiner Assistentin Frau Wolf getauscht hat: Sie ist nun seine Chefin und er der Assistent. Doch die beiden tauchen mitunter über 100 Seiten lang gar nicht auf. Aber aus den oben beschriebenen Gründen macht das überhaupt nichts: Dieses Buch sollte man einfach gelesen haben.
10 von 10 Punkten
Heinrich Steinfest: “Die Möbel des Teufels”, Piper Verlag, 430 Seiten.
Fast auf den Tag genau drei Monate sind vergangen, seitdem ich hier das letzte Mal gebloggt habe. Das war nicht so geplant und hatte auch keine wirkliche Ursache. Gelesen habe ich viele Krimis, nur darüber geschrieben nicht … Also wollen wir nicht lange herumtun und widmen wir uns dem, was für Krimifans relevant ist!
James Lee Burke ist einer der besten Kriminalschriftsteller der USA. Das stellt er auch mit Band 15 der Reihe um Ermittler Dave Robicheaux eindrucksvoll unter Beweis. Kurz bevor Hurrikan Katrina New Orleans heimsucht, wird Robicheaux mit Geistern seiner Vergangenheit konfrontiert: Trish Klein, Tochter jenes Mannes, dessen Tod er hilflos mitansehen musste, taucht plötzlich auf. Will sie den Tod ihres Vaters rächen?
Burkes Bücher sind archaisch, da quillt immer wieder dieses “Auge um Auge, Zahn um Zahn”-Prinzip heraus. Vergeltung für Ungerechtigkeit – das kann wohltuend sein, auch diese Funktion können gute Kriminalromane erfüllen. Einen Gerechten zu begleiten, der sich auf seinem Weg die Hände blutig macht. Man sollte sich jedenfalls nicht davon abschrecken lassen. Denn in Burkes Büchern stecken so viele kleine Wahrheiten und Weisheiten. Kaum jemand erzählt so souverän und gekonnt über Menschen und die vielen Grausamkeiten und Gemeinheiten, die sich einem in den Weg stellen. Wie gerne wären wir auch einmal für einen Tag Dave Robicheaux – unbeugsam und erbarmungslos all jenen gegenüber, die es wirklich verdient haben.
Faszinierend ist es auch, dass man eigentlich wahllos ein Buch aus der Robicheaux-Serie herausnehmen kann – die Qualität scheint nicht zu schwanken. Ein ähnliches Gefühl des blinden Vetrauens in den Autor habe ich sonst eigentlich nur bei Ian Rankin und Adrian McKinty (Ausnahme:“The Chain”).
10 von 10 Punkten
James Lee Burke: “Dunkle Tage im Iberia Paris”, übersetzt von Norbert Jakober, Pendragon Verlag, 477 Seiten.
Noir nennt sich heutzutage schnell etwas. Doch “Blacktop Wasteland” ist wirklich ein überzeugendes Stück Noir. Wenn man will, kann man diesen harten Genreknochen auch als Neo-Noir titulieren. Denn noch selten hat man einen derartig actiongeladenen Noir gelesen. Die Auto-Verfolgungsjagden erinnern frappant an die Action-Filmreihe “Fast and Furious”. Und noch ein uramerikanischer Wert eint Filmserie und Buch: family – Familie ist alles.
Zoomen wir gleich in das Buch. “Wenn du in Amerika schwarz bist, trägst du jeden Tag die Last der niedrigen Erwartung anderer Leute mit dir herum.” So klingt es, wenn Beauregard “Bug” Montage seinen zwölfjährigen Sohn Javon davon überzeugen will, dass Bildung wichtig ist. Der selbst großteils vaterlos aufgewachsene Bug weiß, wovon er spricht. Er saß mehrere Jahre im Jugendgefängnis und versucht verzweifelt, als Automechaniker ein ehrliches Leben zu führen.
Doch das ist einfacher gesagt als getan. Eine neue Konkurrenz-Werkstatt und dadurch ausbleibende Kunden führen zu notorischer Ebbe in der Kasse, das Pflegeheim seiner Mutter wiederum saugt das spärlich hereinkommende Geld wie ein Schwamm auf. Als der wenig vertrauenserweckende Ronnie auftaucht und ihm einen Job als Fluchtwagenfahrer bei einem Überfall auf ein Juweliergeschäft anbietet, hat er, genau genommen, keine Wahl.
Bug ist nicht naiv, er weiß wie der Hase läuft: Unter Dieben gibt es keine Ehre. Und natürlich wird nichts so laufen wie geplant. Doch Bug ist gewappnet – wie aussichtslos die Situation auch gerade sein mag. Und das wird sie des öfteren sein.
Seziermesserscharfe Porträts
S. A. Cosby porträtiert seine Figuren punktgenau. Rasiermesserscharf, nein: seziermesserscharf. Über Ronnies Herkunft schreibt er etwa: “Wenn man in Armut aufwuchs, gewöhnte man sich ans Warten. Warten auf den Sozialhilfescheck in der Posten, warten auf die Almosen der Kirche, Warten, dass die Gemeindemitglieder einen mit ihrer säuerlichen Mitleidsmiene ansahen (…).”
Der Autor erzählt aber auch viel über Söhne und Väter und deren nicht immer einfaches Verhältnis. Bug etwa gerät letztlich in das ganze furchtbare Schlamassel nur, weil er sich von jenem Auto nicht trennen kann, das einst seinem Vater Anthony, der schließlich spurlos verschwand, gehörte. Dabei wusste der von seinem Sohn vergötterte Vater nicht einmal die wichtigsten Dinge aus dem Leben seines Filius. “Alles klar. Wir besorgen dir den größten Erdbeershake, den sie haben”, sagt Anthony einmal. Dabei ist Bugs Lieblingssorte Schoko, wie er enttäuscht flüstert. Als er später in der Geschichte einen Schokoshake haben will, antwortet der Vater: “Klar. Immer wieder was Neues.” Er weiß einfach nichts über seinen Sprößling.
Bug will daher bei seinen Söhnen alles richtig machen. “Ich habe mich sehr angestrengt, ein besserer Vater zu sein. Aber es ist fast so, als hätte ich meine Jungs mit einer Krankheit angesteckt”, muss er resigniert feststellen, nachdem sein zwölfjähriger Sohn Mist gebaut hat – letztlich auch, weil er so handelt, wie er glaubt, dass Bug handeln würde. Welche Krankheit? “Neigung zu gewalttätiger Konfliktlösung.” Eine Erkenntnis bleibt aber am Ende: Auch ein schlechter Vater ist besser als kein Vater.
10 von 10 Punkten
S. A. Cosby: “Blacktop Wasteland”, übersetzt von Jürgen Bürger, Ars Vivendi, 320 Seiten.
Simone Buchholz hat mich zu einem anderen, offeneren Leser gemacht. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihre Bücher für das zuletzt hier besprochene “Winter Traffic” bereit gewesen wäre. Wenn ich an meine erste Lese-Begegnung mit ihr zurückdenke, dann war ich nach der Lektüre von “Blaue Nacht” einigermaßen verwirrt. Das war kein klassischer Kriminalroman. Da war ich noch ein wenig skeptisch. Ich konnte mit dem Faller, Klatsche, Stepanovic und wie sie alle heißen nicht allzu viel anfangen. Doch spätestens seit dem nächsten Buch “Beton Rouge” würde ich mich als großen Fan bezeichnen.
Nun ist also der zehnte Chastity-Riley-Roman “River Clyde” erschienen – und wie ich leicht entsetzt feststellen musste, offenbar auch der letzte der Serie. Also noch einmal Zeit, darüber nachzudenken, was diese Bücher so großartig macht. Da ist natürlich dieser ganz ganz eigene Stil, den wohl nur wenige Verlage in einer Krimi-Serie zulassen würden. Dann diese beschädigte Hauptfigur Chastity Riley – beschädigt wie wir alle natürlich. Uns allen setzt das Leben zu – und dennoch ist es dieser ganz eigene Humor, mit dem Buchholz Verlust, Angst, Abschied, Schmerz und all die anderen bösen Dinge erträglich macht. Ihre Bücher sind Balsam. Wie Pflaster können wir sie über unsere Wunden legen. Und ganz nebenbei hat sie Hamburg für mich zu einem Sehnsuchtsort gemacht!
Das ist so echt, was Buchholz schreibt. Da ist in “River Clyde” zum Beispiel dieser wunderbar aus dem Leben gegriffene “Fortnite”-Dialog (kürzlich sehr ähnlich im Kinderzimmer gehört): “Handlanger, low, pass auf.” – “Denken, die können sich verstecken.” – “Hab einen. Der war lost.” Ganz großes Kino!
Normalerweise gab es eine schlüssig abgehandelte kriminalliterarische Handlung, wenn sie auch niemals im Vordergrund stand. Im abschließenden Band zerfällt allerdings Chastitys Welt endgültig in Stücke. Deshalb macht sie sich auf nach Glasgow, und spürt dort ihren Wurzeln nach. Es ist also logische Konsequenz, dass auch die Krimihandlung in diesem Buch auseinanderbröselt. Im Interview mit der “Presse” gibt die Autorin das auch unumwunden zu: “Ich habe immer wieder kleine Irritationen gesetzt, aber mich meistens zurückgehalten. Jetzt habe ich mir gedacht, es ist der letzte Band der Reihe, da kann ich mich trauen.”
Rein als Kriminalroman betrachtet ist “River Clyde” also eher vernachlässigbar – als konsequenter Abschluss einer außergewöhnliche Krimi-Serie um eine Frau, frei von Konventionen und Zwängen aber perfekt in Szene gesetzt.
3 (als Krimi) / 10 (als Abschluss einer genialen Serie) von 10 Punkten
Der Schotte Ian Rankin ist einer der besten Kriminalschriftsteller der Gegenwart. “Das Souvenir des Mörders” ist der achte Teil seiner Serie rund um Kult-Ermittler John Rebus. Und dennoch ist es nicht irgendein Teil, sondern vermutlich jener, der eine Art Initialzündung war, was seine Breitenwirksamkeit anbelangt. Bis zu diesem Buch war er einfach ein guter Krimiautor, einer von vielen. Doch mit diesem Buch erreichte Rankin ein anderes, höheres Level. Nicht zufällig hat das 1997 erschienene “Black and Blue” (Originaltitel) auch einen Platz in dem Kompendium “Books to die for”, in dem namhafte Krimiautoren ihre Lieblingskrimis empfehlen, gefunden.
Wie ich auf das Buch gestoßen bin? Ein Beitrag auf der crimealley hat mich neugierig gemacht: “Die Art und Weise wie der Schriftsteller die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verknüpft und entwickelt, das Blickfeld seines Ermittlers erweitert, macht deutlich, dass die Lehrzeit endgültig abgeschlossen und der Ton für künftige Romane gefunden ist.” Wer mehr über “Das Souvenir des Mörders” wissen will, sollte einfach Stefans Beitrag lesen – nirgendwo werdet ihr besser und umfassender informiert als an dieser Stelle.
Nichtsdestotrotz will ich meine persönlichen Eindrücke hier kurz wiedergeben. Beim Lesen fiel mir ein anderer genialer Autor ein: Jo Nesbø (wobei mir auch Michael Connellys Harry Bosch und James Lee Burkes Dave Robicheaux in den Sinn kamen). Dessen Kriminalroman “Der Erlöser” hat einen ähnlich bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Das sind wirklich in Worte gegossene Kunstwerke, mit starken Charakteren, eingebettet in überzeugende soziale Umfelder. Und ich habe beide Bücher geliebt, obwohl eine Krimi-Zutat darin vorkommt, die für mich oft ein Grund ist, die Finger davon zu lassen: Serienmörder (in Rankins Buch genau genommen sogar zwei!). Da schrillen bei mir normalerweise immer die Alarmglocken.
Gut-Böse-Schemata, die simple Suche nach einem Täter und am Ende des Rätsels Lösung: Das wird man in “Das Souvenir des Mörders” vergebens suchen. Politik, Polizei, Journalismus, Großkonzerne und Organisierte Kriminalität: Hier bestehen Abhängigkeiten und unerwartete Seilschaften. Sehr beeindruckt haben mich die Porträts der schottischen Städte Aberdeen, Glasgow und Edinburgh. Fesselnd waren auch die Szenen auf der Ölplattform in der rauen Nordsee.
John Rebus ist in gewisser Weise auch ein Seelenverwandter von Sean Duffy, der Hauptfigur der Kriminalromane von Adrian McKinty. Beide Männer sind Raubeine mit einer sentimentalen Ader. Vor allem eines eint sie: Sie sehen auch dann noch hin, wenn es niemanden mehr interessiert und ihrer Karriere abträglich ist. Sie sind auf der Suche nach der Wahrheit und haben einen fast schon zwanghaften Sinn für Gerechtigkeit.
Der 17-jährige Tyler versucht anständig zu bleiben, ein guter Mensch zu sein. Das sagt sich leichter als es ist, denn der Jugendliche lebt in einem herabgekommenen Viertel in der schottischen Stadt Edinburgh und wird von seinem sadistischen Bruder Barry gezwungen, gemeinsam mit Schwester Kelly in fremde Häuser einzubrechen. Von der Mutter ist keine Hilfe zu erwarten, sie hängt an der Nadel und wandelt von Überdosis zu Überdosis.
Tylers Rettungsanker ist seine kleine Schwester Bean, um die er sich liebevoll kümmert. So gut er kann, versucht er für das Kind die Realität auszublenden, um dem Mädchen eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Mit ihr sitzt er abends auf dem Dach des Greendykes House, einem von zwei verbliebenen Hochhäusern (umgeben von Brachland und einer riesigen Baustelle), und erzählt ihr Geschichten, in denen sie eine Superheldin ist.
Als Barry bei einem Einbruch eine Frau niedersticht und lebensgefährlich verletzt, laufen die Dinge endgültig aus dem Ruder: Bei dem Opfer handelt es sich um niemand geringeren als die Frau des gefürchteten Gangsterbosses Deke Holt, der auf Rache gegen die unbekannten Täter schwört.
Tyler nimmt sein Schicksal an, so bitter es auch sein mag. Die gut gemeinten Aufmunterungen von Lehrerinnen und Polizistinnen ob seiner familiären Situation erträgt er kaum: “Er hatte dieses Mitgefühl so unendlich satt.” Für Selbstmitleid ist ohnehin kein Platz. Er kennt kein anderes Leben. Wie sehr seine Mutter auch gesunken sein mag, sie ist seine Mutter. Genauso verhält es sich mit seinem Bruder, von dem er verachtet wird. So sehr Tyler den tyrannischen Bruder auch hassen mag, verraten würde er ihn nie. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen.
Als Lichtblick in seinem verkorksten Leben entpuppt sich schließlich Flick, ein Mädchen aus gutem Hause, das Tyler zufällig kennenlernt. Ihre beiden Leben könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch sind sich die beiden durch ihre gesammelten Erfahrungen ähnlicher als man vermuten könnte. Das zart aufkeimende Gefühl der Hoffnung wird aber schon bald abrupt durch die absolute Auswegslosigkeit der Situation, in der er sich befindet, abgewürgt.
Empathie, nicht Gefühlsduselei, ist es, was “Der Bruch” ausmacht. Dadurch berüht der Autor, der die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der versucht, sich selbst zu finden und treu zu bleiben. Ich habe mich beim Lesen an Bill Beverlys “Dodgers” (Platz zwei meiner Lieblingskrimis 2018; ich habe gerade entsetzt festgestellt, dass ich das Buch hier nie extra besprochen habe – das muss ich bald nachholen!) und Steve Hamiltons “Der Mann aus dem Safe” erinnert gefühlt, die zu jenen Kriminalromanen zählen, die bei mir lange nachgewirkt haben. Auch in den beiden erwähnten Büchern stehen jeweils ein 15-jähriger und ein 17-Jähriger im Zentrum der Geschichte.
Was mir auch gut gefallen hat: Immer wieder stöpselt Tyler die Kopfhörer ein und taucht in seine eigene Welt ab. Er hört Boards of Canada, Jon Hopkins, Four Tet und Hannah Peel – alles Künstler, die mir bis zur Lektüre nichts gesagt haben, deren Musik ich über Spotify aber beim Lesen gehört habe. Großteils blubbernde Elektronik, passend minimalistisch zur verwahrlosten Gegend. Johnstone hat also den Soundtrack zu diesem Buch gleich mitgeliefert.
“Eine schonungslose, aber sympathische Darstellung von Edinburghs ignorierter Unterschicht, mit großartigen Charakteren”. So beschreibt der schottische Krimi-Großmeister Ian Rankin das Buch. Treffender kann man es nicht formulieren. Oder vielleicht doch: Der schottische Autor Doug Johnstone hat einen Kriminalroman geschrieben, wie man ihn nur alle paar Jahre liest.
10 von 10 Punkten
Doug Johnstone: “Der Bruch”, übersetzt von Jürgen Bürger, Polar Verlag, 308 Seiten.
„Am zwanzigsten kurz nach neun nahm Schorsch den Anruf entgegen.“ Mit diesem unprätentiösen Satz beginnt Frank Göhres nur 168 Seiten schmaler Kriminalroman „Verdammte Liebe Amsterdam“. Es ist ein Telefonat, das das Leben von Schorsch Köster verändern wird. Denn der Anrufer setzt ihn darüber in Kenntnis, dass sein Bruder Michael tot auf einem Rastplatz aufgefunden wurde. „Nah stand er ihm schon lange nicht mehr, aber wie auch immer, er war das einzige noch lebende Familienmitglied gewesen.“ Schorsch begibt sich also auf eine Spurensuche, die ihn auch mit seinen eigenen düsteren Geheimnissen konfrontieren wird.
In Rückblenden erzählt der Autor von der Beziehung zweier Brüder, die niemals eine einfache war. Er schreibt davon, wie sie sich nach dem Tod der Mutter gegen die neue Frau an der Seite des Vaters zur Wehr setzen mussten und wie es sie beide, als Jugendliche und auch als Erwachsene, zur gleichen egoistischen Frau hinzog.
Beeindruckendes Krimi-Destillat
Zehn Jahre sind vergangen, seit Göhres letzter Roman „Der Auserwählte“ erschienen ist. Anderen Krimiautoren könnte man angesichts der geringen Seitenanzahl vielleicht vorwerfen, dass ihnen nichts eingefallen sei, doch der 76-jährige Autor ist ein Meister der wenigen Worte. Er braucht keine 400 oder 600 Seiten, um zu beweisen, was er kann. Sein Buch ist ein beeindruckendes Krimi-Destillat, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Vergleichbar ist es vielleicht am ehesten mit den Werken des außergewöhnlichen US-Autors James Sallis.
Der deutsche Krimi-Veteran befreit sich von jeglichem Wörterballast und bleibt immer am Punkt. Er treibt seine Geschichte voran, die Köster zur soeben zur Polizistenwitwe gewordenen Martina, deren neuem Freund Klaus – noch dazu einem Kollegen des Verstorbenen – und deren verschwundener Tochter Suse führt. Hat der Tod seines Bruder mit dem Verschwinden des 15-jährigen Mädchens zu tun? Und wo ist das Mädchen jetzt?
Göhre verbindet die Leben dieser Figuren und erzählt aus mehreren Perspektiven. Es sind vor allem seine präzisen Beschreibungen, sein Gespür für das Detail, die seine schlichten Sätze zu kriminalliterarischen Leckerbissen machen. Er muss nicht endlos das Aussehen von Martinas goldenem Kleingarten-Käfig schildern, um die alltägliche Ödnis begreifbar zu machen. „Die Gartenstühle waren mit der Lehne an die Tischplatte gekippt, der Grill musste gesäubert werden, und auch sonst gab es draußen wie drinnen einiges zu tun.“ Und ihr Sexleben? „Blömke drang in sie ein, erschlaffte rasch und knutschte sie wild ab, Mund, Hals, Brüste.“
Fast ein lupenreiner Noir
Dennoch frönt das Buch keineswegs der gepflegten Tristesse. Milieustark schreibt der Autor über Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise zu überleben versuchen. Liebe wird, wenn sie nicht überhaupt unausgesprochen bleibt, durch wenige Worte und kleine Gesten erkennbar.
Und zwischendurch leuchten immer wieder Sätze wie folgender: „Schorsch kippte den lauwarmen Wodka runter, Vergangenes wurde gegenwärtig, Gegenwärtiges wurde zum Spiegel des Vergangenen.“ Wunderbar.
Das Fazit? Wären da nicht die letzten beiden Sätze, man könnte „Verdammte Liebe Amsterdam“ als lupenreines Stück Noir bezeichnen. Doch die letzten Zeilen warten dann eben doch mit einem wohligen Gefühl bösartiger Gerechtigkeit auf.
10 von 10 Punkten
Frank Göhre: “Verdammte Liebe Amsterdam”, CulturBooks Verlag, 168 Seiten.
“Alle waren komplett verwirrt, denn der Präsident war ein Irrer.” Mit diesem wuchtigen Satz beginnt Sarah Schulmans außergewöhnlicher Kriminalroman “Trüb”, der in einem unter US-Präsident Donald Trump aus den Fugen geratenen New York City spielt.
Aber keine Angst, die Autorin ergötzt sich nicht an billigem Präsidenten-Bashing, vielmehr porträtiert sie Maggie Terry, eine Ex-Polizistin, deren Alkohol- und Drogensucht ihre eigene kleine Welt erschüttert hat. “Ihr inneres Chaos spiegelt auf tragikomische Weise das ihrer Stadt”, formuliert es Schulmans deutsche Herausgeberin und Übersetzerin Else Laudan. Und das der USA, könnte man hinzufügen.
Terry ist seit über einem Jahr clean, als sie zu Beginn des Buchs einen neuen Job als Privatdetektivin antritt. Jeder Tag ist eine Qual, verzweifelt taumelt sie durch ihr Leben. In der Mittagspause, vor und nach der Arbeit schleppt sie sich zu “Narcotics Anonymous”-Meetings, um den nie verschwindenden Verlockungen der Sucht zu widerstehen. Das Verständnis ihres ermittelnden Partners (sowie des gesamten Teams) für diese abgewrackte Kollegin ist enden wollend. Wie soll man mit dieser Frau zusammenarbeiten, Fälle lösen?
Man will dieser Maggie aufmunternd auf die Schulter klopfen, um im nächsten Moment an ihr zu verzweifeln. Selten war Trostlosigkeit so hoffnungsvoll, und auch Komik und Ernst sind in diesem Roman eineiige Zwillinge.
Das Buch ist intim, fesselnd, komisch, traurig, aufwühlend – kurz: grandios.
Ich weiß, ich habe gerade erst die Höchstnote an ein Buch aus dem Ariadne Verlag vergeben, aber:
10 von 10 Punkten
Sarah Schulman: “Trüb”, übersetzt von Else Laudan, Ariadne Verlag, 269 Seiten.