Monthly Archives: November 2020

Éric Plamondon: “Taqawan”

(c) Lenos Verlag

Kanada wäre heuer Gastland der Frankfurter Buchmesse gewesen, der Auftritt wurde aber auf 2021 verschoben. Dadurch sind auch einige kanadische Romane ein wenig untergegangen. Aus den Neuerscheinungen sticht meiner Meinung nach “Taqawan” besonders hervor.

Éric Plamondon erzählt in seinem eindringlichen, gerade einmal 200 Seiten dünnen, inhaltlich aber fast epischen Roman vom Lachskrieg, der 1981 im kanadischen Québec zwischen der Polizei und den seit Jahrtausenden dort lebenden Mi’gmaq tobte. Er tut das aus mehreren Blickwinkeln – aus Sicht der Mi’gmaq, der Québecer sowie einer Französin aus Europa – und mit vielen historischen Einschüben. “Taqawan” (die Bezeichnung für einen Lachs, der erstmals in den Fluss seiner Geburt zurückkehrt) liest sich wie eine kurze Geschichte Kanadas, mit allen Folgen und Problemen, die bis heute nachwirken.

Tausende Jahre lebten die Mi’gmaq – Nomaden, die über die Beringstraße nach Amerika kamen – vom Lachsfang. Sie befolgten dabei eine Weisheit: “Wenn man in einem Jahr zu viele Fische fängt, gibt es im Folgejahr weniger. Wenn man jahrelang zu viele Fische fängt, gibt es irgendwann gar keine mehr.” Doch dann kamen vor rund 500 Jahren die Europäer, und der Fischfang wurde Regeln unterworfen. Während im Westen dem weißen Mann die Ausrottung der Indianer durch die Ausrottung der Bisons gelang, waren es im Osten die Lachse. “Man fischte mit Hilfe von Staudämmen, Reusen und Netzen, bis die Bestände erschöpft waren.”

Wortgewandt offenbart Plamondon in seinem gelungenen Noir die Widersprüche, die sich in Québec auftun, macht die täglichen Ungerechtigkeiten und Parallelwelten in der Gesellschaft spürbar. Wenn Kanada ergriffen Céline Dions Song “Ce n’était qu’un rêve” (“Es war bloß ein Traum”) lauscht, müssen die Mi’gmaq, die gegen den Entzug der Lachs-Fischrechte kämpfen, ernüchtert zur Kenntnis nehmen: “Es ist nicht bloß ein Traum.”

Diese Diskriminierung besteht aus vielen kleinen Puzzlestücken. Was macht es zum Beispiel mit Menschen, wenn sie jahrhundertelang als “Wilde” bezeichnet wurden? Während sich die nach Unabhängigkeit strebenden Québecer selbst von Kanada unterdrückt fühlen, fehlt ihnen selbst jegliches Verständnis für die Situation der Mi’gmaq.

Wie diffus die Lage ist, zeigt sich, als die in Kanada unterrichtende französische Lehrerin Caroline den Einheimischen Yves fragt: “Und warum will die Québecer Regierung den Indianern dann nicht zugestehen, was sie selbst von der kanadischen Regierung fordert? Warum will man das Recht auf französische Kultur und Sprache in Québec innerhalb Kanadas, aber kein Recht auf Kultur und Sprache der Mi’gmaq innerhalb Québecs?”

8 von 10 Punkten

Éric Plamondon: “Taqawan”, übersetzt von Anne Thomas, Lenos Verlag, 200 Seiten.

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Marcie Rendon: “Stadt Land Raub”

(c) Ariadne Verlag

Jahrzehntelang wurden Indigenen in den USA systematisch ihre Kinder weggenommen (landesweit 25 bis 30 Prozent, in einzelnen Bundesstaaten wie Minnesota sogar unvorstellbare 60 Prozent) und als Pflegekinder in weiße Familien gesteckt.

Die widerspenstige 19-jährige Cash Blackbear, die Marie Rendon in ihrem Buch “Stadt Land Raub” porträtiert, teilt dieses Schicksal. Nur schwer findet sich die Außenseiterin im Alltag zurecht. Dennoch ist sie die Einzige, die sich für das Verschwinden einer Reihe weißer, blonder Mädchen interessiert.

Nach ihrem Debüt “Am roten Fluss” (habe ich leider nicht gelesen) schreibt die Autorin erneut über die triste Lage der Native Americans in den 1970ern. Verbessert hat sich aber bis heute nicht viel: Jährlich werden in den USA rund 3000 indigene Frauen entführt oder ermordet.

Verlegerin Else Laudan schreibt über Rendons Buch im Vorwort: “Ihre Erzählweise, seltsam entschleunigt, changiert mit ganz eigenem Rhythmus zwischen Hardboiled-Krimi, Countryballade und staubtrockenem Truth-Telling über die US-Realität der 1970er Jahre und die vielfältig beraubten Native Americans”. Besser kann man es nicht zusammenfassen.

8 von 10 Punkten

Marcie Rendon: “Stadt Land Raub”, übersetzt von Jonas Jakob, Ariadne-Verlag, 237 Seiten.

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Steph Cha: “Brandsätze”

(c) Ars Vivendi

Neben der Coronakrise stand das Jahr 2020 in den USA ganz unter dem Eindruck der “Black Lives Matter”-Bewegung. Dass diese bereits im Jahr 2013 nach dem Freispruch des Polizisten George Zimmerman entstand, der den afroamerikanischen Teenager Trayvon Martin getötet hatte, wird dabei leicht vergessen.

Auch in Steph Chas “Brandsätze” geht es um Rassismus und Diskriminierung. Wie komplex und verworren die Situation tatsächlich oft ist, macht sie am Schicksal zweier Familien klar. Da ist einerseits Shawn Matthews, dessen Schwester Ava im Jahr 1991 von einer koreanischen Ladenbesitzerin erschossen wurde. Und andererseits Grace Park, die Tochter der Täterin von damals, die ungestraft davon kam. Während Grace im Jahr 2019 von den Geschehnissen von damals nichts weiß, hat Shawn mit den Dämonen seiner Vergangenheit zu kämpfen.

Schuld, Reue, Rache und Vergebung – darum dreht sich der mitreißende Roman der US-Autorin mit koreanischen Wurzeln. Cha interessiert sich für Opfer und Täter. Sie zeigt auf, wie leicht man von dem einen zum anderen werden kann, wie verschwimmend die Grenzen zwischen richtig und falsch sein können.

Schnell taucht die Frage auf: Wie hätte ich gehandelt? Wie kann man nach traumatischen Ereignissen weiterleben? Über diese persönlichen Fragen hinaus schafft es die Autorin auch, zu zeigen, mit welchen Problemen die Gesellschaft in den USA zu kämpfen hat.

Als ergänzende Lektüre empfiehlt sich “In den Straßen die Wut” von Ryan Gattis, dessen überzeugender Thriller im Los Angeles des Jahres 1992 angesiedelt ist, als es nach der Misshandlung von Rodney King durch Polizisten zu Unruhen kam, die 52 Menschenleben forderten.

8 von 10 Punkten

Steph Cha: “Brandsätze”, übersetzt von Karen Witthuhn, Ars Vivendi Verlag, 336 Seiten.

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Adrian McKinty: Alter Hund, neue Tricks

(c) Suhrkamp Nova

Mit dem Thriller “The Chain” gelang dem Nordiren Adrian McKinty im Vorjahr der größte Erfolg seiner Schriftstellerkarriere – paradoxerweise mit seinem schwächsten Buch. Wer wissen will, was der Autor tatsächlich drauf hat, muss allerdings seine Sean-Duffy-Reihe lesen.

Band acht, “Alter Hund, neue Tricks”, überzeugt erneut in allen Belangen. Duffy, nur mehr Teilzeitpolizist, zweifelt an der Version eines aus dem Ruder gelaufenen Autodiebstahls. McKinty punktet mit Duffys inneren Monologen, popkulturellen Referenzen und Verweisen auf eigene Werke.

Angeblich soll nach Band neun mit Sean Duffy Schluss sein. Doch die Hoffnung bleibt bestehen: Möge dieser Ermittler niemals in Pension gehen!

Die Sean-Duffy-Romane in der richtigen Reihenfolge:

“Der katholische Bulle”

“Die Sirenen von Belfast”

“Die verlorenen Schwestern”

“Gun Street Girl” (mein persönlicher Favorit)

“Rain Dogs”

“Dirty Cops”

“Cold Water”

9 von 10 Punkten

Adrian McKinty: “Alter Hund, neue Tricks”, übersetzt von Peter Torberg, Suhrkamp Nova, 368 Seiten.

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