Ryan Gattis: In den Straßen die Wut

(c) Rowohlt Polaris

(c) Rowohlt Polaris

Der Rowohlt-Verlag preist seinen Thriller “In den Straßen die Wut” als einen “Roman wie ein Tarantino-Film” an. Superlative sind zwar angebracht, mit diesem Label tut man dem Buch allerdings keinen Gefallen. Denn hier wird weder hochästhetisch kübelweise Blut vergossen noch wird ein cooler Spruch nach dem anderen serviert. Im Gegenteil, Gattis glänzt mit purem Realismus.

Worum es geht? Als die Geschworenen drei Polizisten am 29. April 1992 vom Vorwurf der übertriebenen Gewaltanwendung im Fall des Bürgers Rodney King freisprechen und bei einem vierten zu keinem Urteil kommen, lösen sie damit eine Welle der Gewalt aus, die Los Angeles sechs Tage lang in einen Ort der Gesetzlosigkeit verwandeln soll. Auf den Straßen herrscht Anarchie, Recht und Ordnung lösen sich binnen Stunden auf. Am Ende sterben 52 Menschen, mehr als 2000 werden verletzt.

Die Menschen plündern, die Polizei präsentiert sich als “eine Horde Schläger in Uniform”, und an jeder Ecke scheint es zu brennen: “Feuer in Mülltonnen. Feuer in Eckläden. Feuer in Tankstellen, verdammte Scheiße! Feuer über Feuer, und der Qualm schraubt sich in den Himmel, als würde er ihn abstützen. Wie so Tischbeine. So sehen die Rauchsäulen aus.” Über 11.000 Feuer werden letztlich registriert.

“Nimm dir, was du kriegen kannst”

Vielen Menschen in Los Angeles ist Rodney King in Wirklichkeit vollkommen egal. Latino-Gangmitglied “Big Fate” begreift die Situation schnell: “Diese ganzen Bilder sagen mir das Gleiche wie allen anderen Idioten in dieser ganzen Stadt, die je einen bösen Gedanken im Kopf hatten: Verdammt, jetzt ist dein Tag, Homie. Felicidades, du hast im Lotto gewonnen! Geh raus und spiel verrückt, sagen die Bilder. Nimm dir, was du kriegen kannst, sagen sie. Wenn du böse und stark genug bist, dann komm raus und nimm es dir.”

Mit anderen Worten: Jeder Kleinkriminelle nutzt die Gunst der Stunde, Gang-Mitglieder erkennen ihre Chance, die Karten neu zu mischen. Offene, alte Rechnungen werden beglichen, die Machtverhältnisse verschoben. Letztlich entpuppen sich dann sogar Polizei-Eliteeinheiten als staatlich organisierte Gangs. Losgelöst von den Fesseln jeglicher Überwachung schlagen auch sie erbarmungslos und brutal zu. “Wir haben keine Namen auf die Uniformen genäht. Wir sind so anonym wie der Wind. Was wir tun, existiert nur in geflüsterten Geschichten. Nur die Bösen werden wissen, was wir getan haben, und die zählen nicht”, meint der Angehörige einer solchen Einheit.

Das Besondere an dem Buch: Insgesamt kommen 17 Ich-Erzähler zum Einsatz – immer einer nach dem anderen. Durch diesen Wechsel der Perspektive entsteht ein unglaubliches Panorama. Und wenn der erste Ich-Erzähler bereits nach zwölf Seiten das Zeitliche segnet, ist spätestens ab diesem Moment klar, dass hier alles geschehen kann. Besser kann Kriminalliteratur eigentlich kaum sein.

Was wurde aus Rodney King?

Tja, aber was wurde eigentlich aus Rodney King? Er wurde 2012 tot in seinem Swimmingpool gefunden. Mehr dazu findet ihr bei “Spiegel Online” und auf “Welt.de”.

10 von 10 Punkten

Ryan Gattis: “In den Straßen die Wut”, übersetzt von Ingo Herzke, Rowohlt Polaris, 528 Seiten.

3 Comments

Filed under Rezensionen

3 responses to “Ryan Gattis: In den Straßen die Wut

  1. Das Buch steht schon ewig auf meiner Wunschliste, deine Bewertung macht es nicht besser 🙂

Leave a comment