
Der 17-jährige Tyler versucht anständig zu bleiben, ein guter Mensch zu sein. Das sagt sich leichter als es ist, denn der Jugendliche lebt in einem herabgekommenen Viertel in der schottischen Stadt Edinburgh und wird von seinem sadistischen Bruder Barry gezwungen, gemeinsam mit Schwester Kelly in fremde Häuser einzubrechen. Von der Mutter ist keine Hilfe zu erwarten, sie hängt an der Nadel und wandelt von Überdosis zu Überdosis.
Tylers Rettungsanker ist seine kleine Schwester Bean, um die er sich liebevoll kümmert. So gut er kann, versucht er für das Kind die Realität auszublenden, um dem Mädchen eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Mit ihr sitzt er abends auf dem Dach des Greendykes House, einem von zwei verbliebenen Hochhäusern (umgeben von Brachland und einer riesigen Baustelle), und erzählt ihr Geschichten, in denen sie eine Superheldin ist.
Als Barry bei einem Einbruch eine Frau niedersticht und lebensgefährlich verletzt, laufen die Dinge endgültig aus dem Ruder: Bei dem Opfer handelt es sich um niemand geringeren als die Frau des gefürchteten Gangsterbosses Deke Holt, der auf Rache gegen die unbekannten Täter schwört.
Tyler nimmt sein Schicksal an, so bitter es auch sein mag. Die gut gemeinten Aufmunterungen von Lehrerinnen und Polizistinnen ob seiner familiären Situation erträgt er kaum: “Er hatte dieses Mitgefühl so unendlich satt.” Für Selbstmitleid ist ohnehin kein Platz. Er kennt kein anderes Leben. Wie sehr seine Mutter auch gesunken sein mag, sie ist seine Mutter. Genauso verhält es sich mit seinem Bruder, von dem er verachtet wird. So sehr Tyler den tyrannischen Bruder auch hassen mag, verraten würde er ihn nie. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen.
Als Lichtblick in seinem verkorksten Leben entpuppt sich schließlich Flick, ein Mädchen aus gutem Hause, das Tyler zufällig kennenlernt. Ihre beiden Leben könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch sind sich die beiden durch ihre gesammelten Erfahrungen ähnlicher als man vermuten könnte. Das zart aufkeimende Gefühl der Hoffnung wird aber schon bald abrupt durch die absolute Auswegslosigkeit der Situation, in der er sich befindet, abgewürgt.
Empathie, nicht Gefühlsduselei, ist es, was “Der Bruch” ausmacht. Dadurch berüht der Autor, der die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der versucht, sich selbst zu finden und treu zu bleiben. Ich habe mich beim Lesen an Bill Beverlys “Dodgers” (Platz zwei meiner Lieblingskrimis 2018; ich habe gerade entsetzt festgestellt, dass ich das Buch hier nie extra besprochen habe – das muss ich bald nachholen!) und Steve Hamiltons “Der Mann aus dem Safe” erinnert gefühlt, die zu jenen Kriminalromanen zählen, die bei mir lange nachgewirkt haben. Auch in den beiden erwähnten Büchern stehen jeweils ein 15-jähriger und ein 17-Jähriger im Zentrum der Geschichte.
Was mir auch gut gefallen hat: Immer wieder stöpselt Tyler die Kopfhörer ein und taucht in seine eigene Welt ab. Er hört Boards of Canada, Jon Hopkins, Four Tet und Hannah Peel – alles Künstler, die mir bis zur Lektüre nichts gesagt haben, deren Musik ich über Spotify aber beim Lesen gehört habe. Großteils blubbernde Elektronik, passend minimalistisch zur verwahrlosten Gegend. Johnstone hat also den Soundtrack zu diesem Buch gleich mitgeliefert.
“Eine schonungslose, aber sympathische Darstellung von Edinburghs ignorierter Unterschicht, mit großartigen Charakteren”. So beschreibt der schottische Krimi-Großmeister Ian Rankin das Buch. Treffender kann man es nicht formulieren. Oder vielleicht doch: Der schottische Autor Doug Johnstone hat einen Kriminalroman geschrieben, wie man ihn nur alle paar Jahre liest.
10 von 10 Punkten
Doug Johnstone: “Der Bruch”, übersetzt von Jürgen Bürger, Polar Verlag, 308 Seiten.
Volle Zustimmung, ein grandioser Roman. Bemerkenswert, dass uns beiden auch direkt „Der Mann aus dem Safe“ als Referenz eingefallen ist (der Vergleich taucht in meiner Besprechung auch auf).
Ich muss gleich deine Besprechung lesen! Beide Bücher haben mich jedenfalls wirklich berührt.
Wow, jetzt du auch noch. Die durchgehend positiven bis hymnischen (10 von 10 vergibst du ja wirklich nicht alle Tage) Rückmeldungen zu “Der Bruch” sind inzwischen wirklich bemerkenswert. Ihr macht mir alle tatsächlich ganz schön den Mund wässrig.
“Der Bruch” ist einfach ein wunderbares Beispiel dafür, was wirklich gute Kriminalliteratur kann. Da ist alles drinnen, was ich an diesem Genre so liebe.
Hilft nix, werd ihn dann wohl auch bald lesen müssen. 😉
Du wirst es nicht bereuen! Wäre auch sehr gespannt auf deine Rezension.
Mal schauen, wo auf meinem turmhohen Will-ich-als-nächstes-lesen-Stapel ich ihn platzieren kann. 🙂
Da ich nicht drängen will: auf Platz zwei deines Stapels 😉
Bloß kein Druck. 😀
Pingback: Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast — DOUG JOHNSTONE: DER BRUCH | KrimiLese
Hallo,
das klingt nach einem Buch, das auf die bestmögliche Art berührt und bewegt – ohne Betroffenheitskitsch. Es kommt auf jeden Fall mal auf meine endlose Wunschliste… Schöne Rezension!
LG,
Mikka
Genauso ist es! Danke für deine Worte, Lg Peter
Polar Verlag: Wie Pulp Master eine sichere Bank.
Absolut!