Meine Lieblingskrimis 2023

Auch wenn ich im vergangenen Jahr so gut wie nichts in diesem Blog über Kriminalliteratur geschrieben habe, gelesen habe ich dennoch viel. Daher möchte ich zu Beginn des neuen Jahres noch einmal zurückblicken (vielleicht schaffe ich es demnächst auch noch, meine Lieblingskrimis 2022 nachzuholen …).

Damit es spannender ist, beginne ich bei Platz 10 😉

Platz 10 – Joesi Prokopetz: Hofer

Edition A Verlag

Als 19-Jähriger hat Joesi Prokopetz den Text für den berühmten Austropop-Song „Da Hofa“ geschrieben. Über 40 Jahre später hat er daraus nun einen Kriminalroman gemacht.

Prokopetz hat einen amüsanten Kriminalroman geschrieben, in dem Drogen, der KGB, jugoslawische Partisanen, kaum versteckter Antisemitismus, Abtreibung im katholisch-heuchlerischen Österreich und natürlich auch Popsongs eine große Rolle spielen. Die Polizisten sind ein bissl dilettantisch, die Drogen konsumierenden und durch einen Zufallsfund auch mit Drogen handelnden Jugendlichen unbedarft-naiv. Die Unterweltler sind zwar skrupellos, aber auch nicht die allerhellsten.

Dem Schriftsteller Prokopetz ist es gelungen, aus wenigen Lied-Zeilen einen 300-seitigen stimmigen Roman zu machen, der seine Vorlage nicht kannabalisiert und banalisiert, sondern dem Hofer-Mythos ein weiteres Mosaik hinzufügt.

Platz 9 – Regina Nössler: Kellerassel

Konkursbuch Verlag

„Kellerassel“ spielt während Corona in Berlin. Isabel arbeitet in einer Impfstraße, überlegt aber, wie sie durch Erpressung zu mehr Geld kommen kann. Da sie auch noch im Tiefparterre lebt, wird sie von so manchem abschätzig als Kellerassel bezeichnet.

Regina Nössler porträtiert neben der eigenwilligen Isabel auch noch andere gewöhnungsbedürftige Charaktere, allesamt eher unsympathisch, aber lebensecht. Diesen Kriminalroman der anderen Art sollte man aufgrund seiner Qualität und des lakonischen Stils nicht im Tiefparterre, sondern im Dachgeschoß einordnen.

Platz 8 – Karin Smirnoff: Verderben

Heyne Verlag

Mit „Verderben“ ist Teil eins der dritten offiziellen Trilogie rund um Blomkvist und Salander auf Deutsch erschienen. Autorin Karin Smirnoff erweitert das „Millennium“-Universum um Salanders Nichte Svala, die sehr viel mit ihrer widerspenstigen, außergewöhnlichen Tante gemeinsam hat. Auch sonst wird die Autorin den Vorgängerbüchern gerecht: Die Bösen sind ausschließlich Männer, die Frauen fügen sich jedoch nicht in ihre Opferrollen. Obwohl sie mit den Folgen der männlichen Grausamkeiten leben müssen, sind sie das wahre starke Geschlecht. Da scheint es schlüssig, dass die Erben einer Frau all die zweifelnden und dennoch gleichzeitig so selbstbewussten weiblichen Figuren anvertrauen.

Smirnoff erweist sich in „Verderben“ als würdige literarische Erbin, wenn sie im Geiste des Erfinders über die skrupellosen Machenschaften von Konzernen und korrupten Verwaltungsbeamten, unterstützt von einer rechtsradikalen Motorradgang, schreibt. Wie schon Larsson zeigt sie, wie aus Ohnmacht Wut werden kann – Wut, die aus unterdrückten Opfern Gleichberechtigte macht, die zurückschlagen.

Platz 7 – James Kestrel: Fünf Winter

Suhrkamp Verlag

Das Schicksal von Detective Joe McGrady, den es im Jahr 1941 bei seinen Ermittlungen nach einem grausamen Doppelmord von Honolulu nach Hongkong verschlägt, geht unter die Haut. Als sich die politischen Ereignisse überschlagen und der Krieg zwischen Japan und den USA ausbricht, gerät der Fall vorerst in den Hintergrund: Es gilt zu überleben. So erklärt sich auch, warum sich die Handlung über die titelgebenden fünf Winter spannt und erst im Dezember 1945 endet.

„Fünf Winter“ erzählt viele Geschichten. Da wäre die eines außergewöhnlichen Kriminalfalls, der McGrady angesichts der unglaublichen Brutalität der Tat einfach nicht loslässt. Dann die der komplexen amerikanisch-japanischen Beziehungen. Sowie eine einfühlsame Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht, und viele, viele kleine zwischenmenschliche Episoden. Die große Leinwand scheint für diesen Stoff programmiert.

Platz 6 – Don Winslow: City of Dreams

HarperCollins Verlag

Don Winslow hat einen Mittelteil ohne Mittelmäßigkeit geschrieben. War der Auftakt, „City of Fire“, vor allem von Homers „Ilias“ geprägt, orientiert sich der zweite Teil seiner City-Trilogie nun sehr stark am Epos „Aeneis“, das der römische Dichter Vergil auf Grundlage von Homers „Ilias“ und „Odyssee“ geschrieben hat.

Es ist Winslows große Leistung, dass man als geschichtlich und mythologisch unbedarfter Krimileser an dieser Trilogie ebenso seine Freude hat wie als Liebhaber jahrtausendealter Stoffe. Wer könnte in dieser modernen Version Odysseus sein, wer Dido, wer Aphrodite? Winslow hat ein vielschichtiges Werk verfasst, reich an vielen wahrhaftigen Momenten, das letztlich aber in erster Linie all das abhandelt, was das Menschsein ausmacht: Freundschaft, Feindschaft, Liebe, Loyalität, Hass und Gier. Diese Themen haben sich seit Homer und Vergil nicht grundsätzlich verändert.

Platz 5 – Percival Everett: Die Bäume

Hanser Verlag

In Money Mississippi sterben dumme, dicke weiße Männer. Neben ihnen wird jeweils die Leiche eines unbekannten Schwarzen gefunden. Das Ungewöhnliche: es ist jedesmal derselbe schwarze Mann. Doch wer ist er und wie kann er plötzlich verschwinden und an anderer Stelle wieder auftauchen?

Percival Everetts “Die Bäume” ist vor allem eine ungewöhnliche Kritik am Rassismus in den USA, dem man nicht mit Realismus begegnen kann. Bissiger Humor, gepaart mit ebenso präziser Gesellschaftskritik – und all das liest sich noch dazu wie ein Kriminalroman. Kein Wunder, dass dieses Buch fast alle Krimipreise eingeheimst hat.

Platz 4 – Heather Levy: Der süßeste Tod

Polar Verlag

„Der süßeste Tod“ ist ein gelungener Kriminalroman rund um BDSM – aber meilenweit entfernt von stereotypen Hollywood-Darstellungen wie in „50 Shades of Grey“. Einvernehmlichkeit ist auch bei BDSM oberste Prämisse. Levy lotet gekonnt Grenzen und Grenzüberschreitungen aus.

Um eine grundlegende und zentrale Frage kreist das Buch: Was passiert, wenn ein sadistischer Sexualtäter auf eine Teenagerin mit masochistischen Neigungen trifft? Laut der deutschen Kriminalliteratur-Expertin Sonja Hartl räumt die Autorin mit einem brutalen Irrtum auf, wie sie im Nachwort schreibt: „Nur weil sie von Schmerzen erregt wird, bedeutet es nicht, dass sie vergewaltigt werden will.“

Wer ein schmuddeliges und voyeuristisches Machwerk befürchtet: Fehlanzeige. Levys Buch ist stellenweise sehr schwer erträglich. Was Menschen einander antun, es ist kaum zu beschreiben. Doch Levy gelingt es.

Platz 3 – Dennis Lehane: Sekunden der Gnade

Diogenes Verlag

Boston im Sommer des Jahres 1974. Die Stadt gleicht einem Kochtopf. Das liegt an der drückenden Hitze, aber auch an den Folgen eines Gerichtsurteils, das die Stimmung befeuert. Dieses verpflichtet die Schulbehörde nämlich dazu, schwarze Schüler per Bus in weiße Schulen zu bringen – und umgekehrt. Das irisch geprägte Viertel Commonwealth in South Boston ist deshalb in Aufruhr. Nähme man den Deckel vom Kochtopf, der ganze Hass würde herausbrodeln.

Für Lehane ist dieses Buch ein persönliches. Als Kind war er mit seinem Vater in einen Mob aufgebrachter Menschen geraten, die gegen die Fahrt der Schulbusse demonstrierten. Nie in seinem Leben habe er so viel Angst gehabt. „Es ist eine Geschichte, die, so hoffe ich, endlich in Worte fasst, was ein verängstigter Neunjähriger zu begreifen versuchte, als sein Vater falsch abgebogen und mitten ins empörte Herz einer Gemeinschaft geraten war.“ Vor allem aber ist es ein Buch, das man wegen seiner vielen Wahrheiten, seiner Empathie und seinem unerschütterlichen Humanismus am liebsten gleich noch einmal lesen würde.

Platz 2 – Megan Abbot: Aus der Balance

Pulpmaster Verlag

Megan Abbotts abgründiger Krimi “Aus der Balance” entführt in die Welt des Balletts, auf die dunkle Seite von Rosa, wenn man so will. Eindringlich schreibt sie von geschundenen Körpern und Seelen.

“Das Ballett war reich an düsteren Märchen, und wie eine Tänzerin ihre Spitzenschuhe vorbereitete, war ein Ritual, so mysteriös und intim wie Selbstbefriedigung”, heißt es an einer Stelle. Ohne Ehrgeiz und Ellbogen gibt es im Ballett jedenfalls keine Erfolge.

Abbotts abgründige Geschichte über die Schwestern Dara und Marie, die seit dem Tod ihrer Mutter eine Ballettschule betreiben, legt gekonnt offen, wozu die vielen nicht gesagten Dinge in Beziehungen führen können.

Platz 1 – Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume

Tropen Verlag

Der Franzose Jean-Christophe Grangé hat mit „Die marmornen Träume“ einen großen Roman geschrieben, der im Berlin der 1930er-Jahre spielt und den Irrsinn jener Zeit offenbart.

„Die marmornen Träume“ fängt die zwischen Ekstase und Ohnmacht schwankende Stimmung gekonnt ein. Dass es ausgerechnet drei „Beschädigte“ sind, die den Proponenten eines abartig auf Schönheit und Perfektion getrimmten Weltbildes, mehr aus Sturheit als aus tiefster Überzeugung, ungalant das Bein stellen, ist ein wunderschöner Kniff.

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4 Comments

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4 responses to “Meine Lieblingskrimis 2023

  1. Hallo Peter,

    spannende Liste!

    einige “No-Brainer” sind dabei, wie ich finde: “Sekunden der Gnade”, “Fünf Winter”, “Aus der Balance” und natürlich “Die Bäume”. Mit “Alles Schweigt” hätte ich noch gerechnet, das hat mir sehr gut gefallen.

    Mit Grangé hast du mich total überrascht. Das Buch ist mir erst einmal auf der Seite des Verlags aufgefallen, aber bisher habe ich es es bei keinem der üblichen Verdächtigen (deutschlandfunk, culturbooks, etc.) gesehen. Ich musste bei dem Titel gleich an “Die purpurnen Flüsse” denken. Das kommt natürlich auf meine Liste.

    Die aktuelle Don Winslow Trilogie ist also gut!? Von ihm habe ich bisher leider nur das mäßige “Corruption” gelesen.” Ich weiß, ich habe viel verpasst; Winslow ist doch ein Favorit von dir, neben Gary Disher, Adrian McKinty. Das verrät auch dein Bild.

    Welche Bücher haben dir 2022 am allerbesten gefallen?

    Ich freue mich auf weitere Beiträge mit spannenden neuen Büchern.

    Gratuliere zum elfjährigen Bestehen deines Blogs!

    Liebe Grüße,

    Paul

    • culturmag sollte es heißen und nicht culturbooks

    • Hallo Paul,

      ich überlege mir immer am Ende des Jahres, welches Buch mich am meisten beeindruckt hat. Und das war nun einmal “Die marmornen Träume”. Ich weiß, das Buch ist kaum irgendwo aufgetaucht, aber der Autor hat für mich die Stimmung dieser Zeit beeindruckend rübergebracht. Ich hatte mir auch zuerst gedacht, ein Nazi-Berlin-Roman von einem Franzosen: Echt jetzt? Fazit: Ja! Er schießt vielleicht manchmal über das Ziel hinaus, aber man kann das Grauen von damals nicht immer nur mit nüchternem Realismus begreifbar machen.

      Die aktuelle Winslow-Trilogie hat wieder eine tolle Qualität. Du kannst jetzt wohl gleich auf den abschließenden Teil warten und dann alle Teile in einem Aufwasch lesen 😉 “Corruption” ist in der Tat eher nur durchschnittlich.

      Ja, die 2022-Liste werde ich hoffentlich rasch angehen. Sind es wirklich schon elf Jahre? Vor allem die letzten beiden Jahre zählen angesichts äußerst seltener Beiträge aber kaum …

      Liebe Grüße,
      Peter

  2. Hallo Peter,

    gut, dass du dein eigenes Ding machst. Überrascht war ich nur, weil ein mir fast unbekanntes Buch deine Nummer eins geworden ist. Deshalb kommt es auch auf jeden Fall auf meine Liste.

    Ich glaube die Nationalität ist unwichtig. Wenn der Autor gut recherchiert, kann er, meiner Meinung nach, über jedes Thema schreiben. Über das dritte Reich schreiben auch andere nichtdeutsche Autoren. Mir fallen spontan Philip Kerr und Robert Harris ein. Gelesen habe ich beide leider noch nicht. Robert Harris’ Alternativweltgeschichte “Vaterland” möchte ich unbedingt noch lesen, “einen Kriminalfall vor der Kulisse eines fiktiven Dritten Reiches, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und nun Europa dominiert” (Wikipedia).

    Gute Idee mit der “City on Fire-Saga”, das werde ich wohl so machen.

    Ich habe zuletzt “Moder” (danke für den Tipp! Sind Garry Dishers Bücher mit anderen Helden auch so gut wie die Wyatt Romane?) und Wolfgang Schorlaus “Das dunkle Schweigen” (3. Platz deutscher Krimipreis 2006) gelesen. In letzterem Krimi kommt witzigerweise Steinfests “Cheng” vor:

    “[…] als ihm mit eiligen Schritten ein Mann entgegenkam […] Er schien ein Chinese zu sein oder ein Halbchinese […]. Er zog an einer Leine einen kleinen, schweren Hund hinter sich her […] [und] fluchte dabei mit österreichischem Akzent.”

    Freue mich auf die 2022er Favoriten. Wieder eine Überraschung an erster Stelle?

    Liebe Grüße,

    Paul

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