In “Die Verflüchtigten” kommt zwar ein Privatdetektiv vor, Kriminalroman ist das aber keiner. Vielmehr handelt es sich um ein Buch, das die Gegensätze von Japan und der westlichen Welt herausarbeitet – wieder einmal aus westlicher Sicht, aber auf sehr einfühlsame und respektvolle Weise. Sein “japanischer Roman” sei Zeugnis seiner Begegnungen mit dieser Kultur, “dir mir noch immer in vielerlei Hinsicht fremd ist”, schreibt Reverdy im Nachwort.
Im Zentrum der Geschichte stehen die titelgebenden Verflüchtigten, die sogenannten johatsu. Das sind Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, von einem Tag auf den anderen verschwinden. Sie nehmen keinen Kontakt mehr zu ihren Familien auf, oft auch um sie dadurch zu schützen. Einer von ihnen ist Kaze. Dessen Tochter, die seit Jahren in den USA lebt, kehrt daher in ihre Heimat zurück, mit ihrem Ex-Freund, einem Privatdetektiv. Dieser soll ihr bei der Suche helfen. Tatsächlich macht er aber viele erniedrigende Erfahrungen, kann sich in dem so fremden Land kaum zurechtfinden. “In Japan war man auf einmal Analphabet”, heißt es da. Bis zehn zu zählen ist etwa nicht so leicht, wie man sich das vorstellen mag:
“Die Zahlen – oder vielmehr die entsprechenden Wörter – änderten sich je nachdem, ob es sich um runde oder flache Gegenstände handelte, um Menschen, um Kinder, um kleine oder große, fliegende, kriechende oder schwimmende Tiere, um Maschinen, Röhren oder Quadrate. Das machte ein gut Dutzend Arten, bis zehn zu zählen.”
Reverdy zeigt eindrucksvoll, wer von der Natur- und Atomkatastrophe in Fukushima profitierte. Unter anderem die Mafia, die Yakuza, die nach ersten Gerüchten über Plünderungen und Vergewaltigungen die Ordnung im Katastrophengebiet wieder herstellte. Entsandte die Polizei 30 Beamte, stellte die Yakuza 960 “Männer fürs Grobe” ab: “Die Yakuzu hatte ihre historische Rolle als Schutzmacht der Nation wieder übernommen und ließ sich dafür von den patriotischen Magazinen der extremen Rechten feiern.”
Besonders nach Fukushima verschwinden viele Männer. Die Überlebenden haben alles verloren. Selbst wenn nicht, müssen sie für ihre Häuser, die keinen Wert mehr besitzen, hohe Kredite abzahlen. Um ihre Familien zu entschulden, wählen manche Männer diesen ehrenvollen Weg des Verschwindens. Viele Verflüchtigte müssen sich als Taglöhner im Katastrophengebiet verdingen, um über die Runden zu kommen. “Manche arbeiten auch direkt im Atomkraftwerk, und das für den Stundenlohn einer Teilzeit-Aushilfe bei McDonald’s in Tokio.”
Es ist keine schöne Seite Japans, die Reverdy zeigt. Er tut das aber nicht mit anklagendem Ton. Er zeigt bloß auf, wie wenig wir wissen über Fukushima und was danach passierte. Er zeigt, wie die Menschen dort ums Überleben kämpfen, wenn die Öffentlichkeit sich nicht mehr dafür interessiert. Er schildert aber nicht nur gut recherchierte Fakten, sondern webt in seine Fiktion auch immer wieder kapitelweise Imaginäres ein. Das bremst zwar immer wieder, macht aber Japan besser begreifbar.
Besonders beeindruckt hat mich das Kapitel “Der japanische Ödipus”. Darin erklärt, Reverdy, dass in Japan ein Kind bis zum Alter von sechs oder acht Jahren bei der Mutter schläft:
“Mann und Frau gibt es nicht mehr, die Eltern schlafen nicht mehr im selben Bett. Das Kind verschmilzt körperlich mit der Mutter. Der Vater geht arbeiten und bringt das Geld nach Hause, sonst nichts. Er ist eine Art Fremder, dem man allen Respekt bezeugt. Verstehst du? Das heißt, du musst ihn nicht einmal töten, um mit deiner Mutter zu schlafen.”
Alles in allem ein faszinierendes Buch, das einen faszinierenden Einblick in das Post-Fukushima-Japan bietet. Ein wichtiges Buch auch, damit sich die Geschehnisse von Fukushima und deren Folgen nicht einfach verflüchtigen.
7 von 10 Punkten
Thomas Reverdy: “Die Verflüchtigten”, übersetzt von Brigitte Große, 320 Seiten, Berlin Verlag.