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C.S. Forester: Gnadenlose Gier

(c) dtv premium

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Im Vorjahr ist der seit Jahrzehnten verschollene Kriminalroman “Tödliche Ohnmacht” des Briten C.S. Forester (1935 verfasst, aber damals nie publiziert) erstmals auf Deutsch erschienen. Über Foresters Wirken und Bedeutung hat Tobias Gohlis damals geschrieben: Man stelle sich vor, Miss Marple oder Harriet Vane, Lord Peter Wimseys Gattin, redeten von Verhütungsmitteln. Shocking! Die Leserinnen von Agatha Christie und Dorothy Sayers ließen die Teetassen fallen. (…) Hätte sich 1926 sein Krimidebüt Payment Deferred (“Zahlungsaufschub”) durchgesetzt, und nicht Agatha Christies im selben Jahr erschienener Rätselkrimi The Murder of Roger Ackroyd (“Alibia”), wäre die Geschichte der Kriminalliteratur anders verlaufen.” Über “Tödliche Ohnmacht” urteilte er damals: “Tödliche Ohnmacht könnte von einer klarsichtigen, wütenden Feministin geschrieben sein.”

Ich habe Forester nun aber mit seinem bereits 1930 erschienenen Buch “Plain Murder”, das als “Gnadenlose Gier” neu übersetzt wurde, kennengelernt. Man kann übrigens von der ersten vollständigen Übersetzung reden, denn die erste deutsche Übersetzung (Titel: “Ein glatter Mord”) aus dem Jahr 1964 hat dem damaligen Trend entsprechend das Originalwerk offenbar ziemlich kannibalisiert. Überrascht und überzeugt hat mich bei der Lektüre vor allem, mit welchem psychologischen Scharfsinn Forester schreibt – vor allem wenn man das Buch im Kontext seiner Zeit betrachtet. “Gnadenlose Gier” ist über weite Strecken das überzeugende Porträt von Charlie Morris, der vom verzweifelten, um seinen Job bangenden Mann zum eiskalten Mörder wird. Besonders faszinierend ist auch der Einblick in die Werbebranche, den Forester bietet. Viel hat sich da in den vergangenen 84 Jahren nicht verändert, musste ich mir immer wieder denken.

Ein “antisemitischer Krimi”?

Umso überraschter war ich, als ich in der “Welt” lesen musste, dass der dtv Verlag mit “Gnadenlose Gier” angeblich einen antisemitischen Krimi veröffentlicht hat. Habe ich ein anderes Buch gelesen? Wieland Freund macht das in seinem Artikel vor allem an folgendem Zitat fest: “Die markante hakenförmige Nase verriet einen jüdischen Einschlag in seiner Ahnenreihe – von dem Morris wusste –, und die Andeutung bestätigte sich in dem olivfarbenen Ton seiner Wangen.” Kurz darauf ist auch von “wulstigen Lippen” die Rede. 250 Seiten lang verfolge Forester seine Figur Morris “mit Hass und Ekel”.

Allerdings muss man hier betonen, dass Morris in dieser Szene vor dem Spiegel steht und sich selbst betrachtet. Und letztlich ist er mit seinem Aussehen gar nicht so unzufrieden: “Nun ja, er hätte besser aussehen können, so wie auch seine berufliche Laufbahn hätte brillanter verlaufen können, doch in beiden Fällen war das Ergebnis etwas, worauf er stolz sein konnte.” Bis auf diese eine Szene konnte ich zudem keine Szene finden, die man antisemitisch deuten könnte. Auch konnte ich nicht den Eindruck gewinnen, dass Forester seine Figur mit Hass und Ekel betrachtet. So gesehen müsste man auch John Buchans Krimi-Meisterwerk “Die neununddreißig Stufen” als antisemitisch einstufen, da gibt es ähnliche Passagen.

Ich würde daher viel eher Gohlis Interpretation zustimmen, die er in seinem Recoil-Blog darlegt: “Sinnvoll lässt sich das nur so verstehen, dass Morris seine Physis akzeptiert und einsetzt, um den sozialen Makel niedriger Bildung und möglicher Diskriminierung durch übersteigertes Selbstbewusstsein und die Selbstermächtigung zum Herrn über Leben und Tod zu kompensieren. (…) Forester geht es nicht um Zuordnungen von Rasse, Aussehen und Verhalten, sondern um eine Phänotypologie des Mörders.” Denn Morris ist nicht “gnadenlos gierig”, weil er Jude ist – dieser Eindruck entsteht auf keiner Seite. Ein 250-seitiges Buch wegen drei aus dem Kontext gerissenen Zeilen als “gnadenlos antisemitisch” zu bezeichnen, finde ich dann doch ein wenig seltsam.

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