Philip Kerr: 1984.4

(c) Rowohlt Rotfuchs

Der vielseitige britische (Nicht-nur-)Krimiautor Philipp Kerr ist 2018 überraschend und viel zu früh gestorben. Ich bin froh, dass ich den sympathischen Briten im Zuge der Kriminacht 2015 in Wien live erleben durfte. Bekanntheit erlangte er vor allem mit seiner Serie rund um Kultfigur Bernie Gunther, der in der Nazi- und Nachkriegszeit ermittelt. Darüber hinaus schrieb er aber auch Wissenschaftsthriller, fantasievolle Kinderbücher und ziemlich gelungene Fußball-Krimis (“Die Hand Gottes”).

Drei Jahre vor seinem Tod hat der Autor eine Hommage auf George Orwells Meisterwerk “1984” verfasst, die nun posthum erschienen ist. Orwells Werk gilt bis heute als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Der alles sehende und alles wissende “Große Bruder” wurde zum Synonym des allmächtigen Überwachungsstaats. Kurz nach Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump etwa erreichte das 1948 verfasste Werk angesichts von Trumps laxem Umgang mit Fakten in diversen Bestsellerlisten Platz eins.

Kerr hatte mit seiner Version allerdings keine simple Kopie im Sinn, sondern wollte sein Buch als ein in einem Paralleluniversum entstandenes Werk verstanden wissen, das Orwells großem Roman ähnle, gleichzeitig aber sehr anders sei. Das steht im Vorwort des Autors. Beides ist ihm mit “1984.4” tatsächlich gelungen, an die Wucht und Tiefe des Originals kommt Philip Kerr aber nicht heran.

Die “Ruhestandsvollstrecker” des “Senior Service”

Worum es in Kerrs Buch geht? Alle Menschen, die vor “1984.4” geboren wurden und nun über fünfzig sind, müssen sich einem vollständigen Körperscan unterziehen, um präzise vorhersagen zu können, wann jeweils der geistige Verfall einsetzt. Der “Plan zur freiwilligen Euthanasie” (PFE) legt fest, dass all jene, die ihr errechnetes Ablaufdatum überschritten haben, in den “Ruhestand” – also den Tod – gehen sollen: “Auf diese Weise können die Menschen Vorsorge für ihren eigenen würdigen Abschied aus dem Leben treffen.” In Wirklichkeit geht es aber darum, dass demente und kranke Menschen für die Gesellschaft nicht leistbar sind und daher verschwinden müssen. Sie belasten das Gesundheitssystem und verursachen immense Kosten.

Jene Alten, die sich nicht daran halten, werden gnadenlos vom “Senior Service” (SS) eliminiert. Für die Tötung der alten Menschen beschäftigt das Senior Service sogenannte Ruhestandsvollstrecker. Rekrutiert werden Jugendliche, die – ähnlich wie in einem freiwilligen sozialen Jahr – Dienst für die Gesellschaft versehen. Eine davon ist die 16-jährige Florence, die zu Beginn des Buches keine Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer blutigen Tätigkeit hat. Alte Menschen jagen und töten, das ist ganz normal. Doch als sie zufällig Eric kennenlernt und sich in diesen verliebt, beginnt ihr Weltbild zu wanken.

Kenner werden in der literarischen Würdigung des Orwell’schen Werkes viele Personen wiedererkennen. Aus der am System zweifelnden Hauptfigur Winston wird in der neuen Version die Jugendliche Florence. Nicht ohne Ironie wird dafür in Kerrs Buch aus Winston der bedrohliche große Bruder, gegen den Florence aufbegehrt. Auch wichtige Personen aus dem Original wie Folterer O’Brien und Buchmensch Mr. Charrington sind in “1984.4” wiederzufinden. Und sogar Autor Aldous Huxley findet kurz Erwähnung.

Hoffen auf Bernie Gunthers letzte Rückkehr

Zweifellos hatte Kerr erheblichen Spaß, mit Versatzstücken des Orwell’schen Universums zu spielen. Herausgekommen ist aber etwas ganz anderes. Das Buch liest sich durchaus unterhaltsam, aber auch ein wenig belanglos. Von Orwells niederschmetternd pessimistischer und düsterer Zukunftsversion ist nichts geblieben. Florences Wandlung von der fanatischen Mitläuferin zur Revolutionärin mutet seltsam an – in beiden Rollen wirkt sie naiv. Während bei Orwell alles grau ist, scheint Florence nur schwarz oder weiß zu kennen.

“1984.4” sei das letzte Buch des Autors, steht im Klappentext. Es bleibt zu hoffen, dass das so nicht stimmt. Denn “Metropolis”, der abschließende vierzehnte Band der Bernie-Gunther-Serie, wurde bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt. Und in diesem von ihm erschaffenen Universum historischer Krimis ist Kerr unerreicht.

6 von 10 Punkten

Philip Kerr: “1984.4”, übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn, Rowohlt Verlag, 320 Seiten.

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One response to “Philip Kerr: 1984.4

  1. Schöne Rezension und auch eine angemessene Würdigung für den immer sehr sympathisch wirkenden Autor. Habe mehrere Interviews mit ihm mit viel Freude gesehen und gelesen, und sein Tod hat mich doch sehr überrascht.

    Die Gunther-Reihe wartet auch noch hier auf mich. Freue mich die irgendwann mal in Angriff zu nehmen.

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