Ich habe hier vor einer Woche geschrieben, dass mir Jerome Charyns “Unter dem Auge Gottes” keinen Lesespaß bereitet hat. Ich habe das damals aber nicht wirklich begründen können und gemeint, ich hätte keinen Zugang gefunden. Nach einem Posting von Thomas Wörtche (Bei Büchern, zu denen ich keinen Zugang finde, würde ich nix sagen, außer, ich könnte begründen warum, oder spekulieren, wo die Gründe liegen könnten) bei “My Crime Time” – einem Blog, den ich übrigens schwer empfehlen kann! – sehe ich mich nun aber veranlasst, doch genauer zu erklären, warum mir das Buch nur begrenzt gefallen hat. Denn es war tatsächlich ein wenig feig, keine Begründung mitzuliefern. Nach der nun auch bei “My Crime Time” gelesenen ebenfalls hymnischen Kritik (Ich rekapituliere: Schnorrt Literatur, sauft Champagner, nehmt Drogen. Und lest um Gotteswillen Jerome Charyn!) drohe ich mich damit zwar ein wenig ins Meinungsabseits zu stellen, aber was soll’s .
Hier also meine Erkenntnisse:
Um bei dem alkoholischen Vergleich zu bleiben: Ich bin offenbar eher der Bier- und Whiskey-Trinker, und nicht der Champagner-Trinker. Für mich sind momentan irische und schottische Krimis das beste, was es am Spannungssektor zu lesen gibt. Das sind zumeist schnörkellos, geradlinig erzählte Krimis mit präziser Sprache (zwei Beispiele: Adrian McKintys “Der katholische Bulle”, Sorj Chalandons “Rückkehr nach Killybegs”, das ich gerade recht begeistert lese). Ein Nachteil war es bestimmt auch, mit dem letzten Teil in die Isaac-Sidels-Serie einzusteigen. Hätte ich Sidels Entwicklung von Buch zu Buch durchgemacht, hätte ich “Unter dem Auge Gottes” wohl auch anders gesehen.
Das eigentliche Problem liegt aber woanders: Das Surreale und Chaotische (“My Crime Time” fasst das gut zusammen: Und Isaac Sidel bewegt sich wie Quecksilber durch das bebende Chaos der Handlung: wunderschön fratzenhaft, in seiner brachialen Art höchst elegant – und absolut verbalgiftig.) hat mir persönlich überhaupt nicht zugesagt. Was die Mehrzahl der Kritiker also als die Stärke des Buches empfindet, war für mich seine Schwäche. Ich habe keinen Lesespaß dabei empfunden, sondern war genervt. Weil es mich nicht überzeugt hat. Die Handlung war mir einfach zu abgehoben, zu unrealistisch, zu weit hergeholt. Dass dieser Isaac Sidel tatsächlich Vizepräsident der USA werden kann, ist für mich zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Ich hatte also von Beginn an das Problem, dem Autor die Geschichte abzunehmen.
Auch den Mythos New Yorks, die glorreiche Zeit der Kosher Nostra etc. konnte ich nur im Ansatz spüren. Mit dem Mythos New Yorks und seiner Geschichte hat in meinen Augen Warren Ellis in “Gun Machine” weitaus besser gespielt. Das hat mir beim Lesen wirklich Spaß gemacht. Hier Charyn und Ellis zu vergleichen ist allerdings wie Äpfel und Birnen zu vergleichen. Ich schreibe das nur, um zu verdeutlichen, was bei mir als Leser funktioniert hat und was nicht.
Ich glaube auch nicht, dass ich grundsätzlich mit Surrealem Probleme habe. Denn auch “Osama” von Lavie Tidhar lässt den Leser in eine eigenartige, seltsame Welt abtauchen. Es kann also nicht nur an meiner Vorliebe für realistische Kriminalliteratur liegen, dass mir Charyns Buch nicht zugesagt hat.
Was letztlich wieder zur Frage des Geschmacks zurückführt. Es wäre nicht okay, das Buch gut zu finden, nur weil es alle tun. Und es ist auch eine neue Erkenntnis, nach der Lektüre eines Buches im ersten Moment so ratlos zurückzubleiben. Zum Abschluss nur so viel: Dieser Charyn ist für mich ein Rätsel und genau deshalb werde ich in nächster Zeit bestimmt noch mehr von ihm lesen. Vielleicht war ich für seinen Stil noch nicht bereit, vielleicht werde ich es aber auch nie sein. Lesen ist ja Entdecken und auch Lernen über sich selbst. So gesehen, hat Charyn ja doch einiges in mir bewirkt. Gleichgültig war er mir ja nicht – und das wäre wirklich ein schlimmes Urteil. Alles andere bleibt schließlich immer auch eine Frage des Geschmacks.