370 Seiten lang las sich “Die Toten der North Ganson Street” so, als hätte dieser Krimi einen Platz unter den Top 10 des Jahres 2016 sicher. Doch dann wurde dieses Buch fürchterlich trivial und sorgte für eine der größten Enttäuschungen dieser Saison.
Zahler erschafft mit Detective Jules Bettinger eine glaubwürdige Hauptfigur. Als Bettinger für den Selbstmord eines Geschäftsmannes verantwortlich gemacht wird, muss er Arizona verlassen und wird nach Victory, einer trostlosen Stadt des “Rustbelts” – die von den Einwohnern schlicht Shitopia gennant wird – versetzt. Bettinger nimmt diese Verbannung in eine der gewalttätigsten Städte der USA hin, siedelt seine Familie aber gut 80 Meilen entfernt davon in einer sicheren Kleinstadt an.
Die kleinen Szenen, die das Familienleben schildern, sind äußerst gelungen. Hier trennt ein Mann strikt sein Berufs- und Privatleben. Der Autor überzeugt aber nicht nur mit Charakterzeichnung, sondern auch mit feinen Dialogen:
“Wie seid ihr denn drauf?” Izzy rieb sich mit zitternden Händen die Schläfen. “Sollte nicht einer von euch den guten Bullen spielen?”
“Der wurde in den 70ern gefeuert.”
Bettinger lebt sich nur schwer in die Gemeinschaft der Polizisten ein. Offen schlägt ihm Feindseligkeit entgegen, das wirkt beim Lesen glaubwürdig und gut nachvollziehbar. Dann werden zwei Polizisten getötet und es sollen nicht die letzten bleiben. Ab diesem Moment wird es so richtig heftig, Zahler spart keine Details aus. Das ist unangenehm und wühlt beim Lesen auf, auch die Hauptfigur muss schlimme Dinge durchleiden. Aber damit hätte ich noch leben können, wenn da nicht dieses unglaubwürdige Ende wäre.
Ich bin immer noch ein wenig fassungslos, wie dieser talentierte Autor diese Geschichte derart banal enden lassen kann. Offenbar waren die aufwühlenden Szenen plakativer und roher Gewalt nur Effekthascherei, um den Rachefeldzug am Schluss zu rechtfertigen. Aber weder Dramatik noch Showdown funktionieren – zumindest für mich. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr wissen, wie die Geschichte ausgeht. Das Buch wirkt seltsam lieb- und ideenlos zu Ende gebracht. Es ist so, als hätte der im Buch aufkommende Schneesturm sämtliche Logik verschluckt. Sehr schade.
So kann, muss man das aber nicht sehen. Tina schreibt in ihrem Blog “Fluchtpunkt Lesen” deutlich positiver über das Buch: “Eigentlich ist das Buch eher eine Dystopie, als ein Thriller – finde ich jedenfalls. Es zeigt auf, wo die Gesellschaft mit Rassismus, Perspektiv – und Empathielosigkeit, Korruption und Kriminalität hindriften kann. Die Tauben, die immer wieder tot vom Himmel fallen und deren Kadaver in den Straßen von Victory allgegenwärtig sind, verdeutlichen für mich, dass das Gute in diesem Szenario, dieser fiktiven Welt, ausstirbt.”
Auch Joachim Feldmann urteilt in den Bloody Chops auf crimemag.de wohlwollender: “So bleibt man als Leser nachhaltig verunsichert, und das ist nicht das Schlechteste, was man über ein Buch sagen kann.”
4 von 10 Punkten
S. Craig Zahler: Die Toten der North Ganson Street, übersetzt von Katrin Mrugalla und Richard Betzenbichler, 496 Seiten, Suhrkamp Verlag.
“Aber weder Dramatik noch Showdown funktionieren – zumindest für mich. […] Es ist so, als hätte der im Buch aufkommende Schneesturm sämtliche Logik verschluckt.” Stimme ich absolut zu. Mir gings dabei nicht mal unbedingt um die Banalität, sondern auch die unglaubliche Zähigkeit. Wie lange sind die da rumgelaufen, ohne das irgendwas passierte? Ganz schlimm. 4 von 10 finde ich dann aber übertrieben hart, gerade weil der Großteil des Buches so großartig ist. Wenn ich es in Punkten ausdrücken müsste, würde ich wahrscheinlich auf 6,5 kommen.
Aber ich war beim Lesen echt so sauer wie sonst selten. Das hat mich echt geärgert, vorher auf einer soliden 8-9 unterwegs und dann das 😉 Daher die harte Wertung, weil mir das sonst wirklich selten passiert, dass ich beim Lesen solche Gefühle habe. Aber ich hoffe, der Autor schreibt weiter, denn das Talent ist beträchtlich!
Ich kann dir nur “Bone Tomahawk” ans Herz legen, für den Film hat Zahler das Drehbuch geschrieben. Tolle Mischung aus Western und Horror in der Tradition von Cormac McCarthy und Joe R. Lansdale. Mich würde außerdem mal interessieren, wie gut seine anderen Bücher sind. Vielleicht wird ja noch was übersetzt …
Danke für die Info! Klingt sehr vielversprechend. Und ja: hoffe ich auch, dass da noch mehr übersetzt wird.